Mit optimistischen Zukunftsvisionen und der Beteuerung seiner persönlichen Fitness hat Boris Johnson sein mürrisches Parteivolk und die Briten von den schweren Versäumnissen seiner Corona-Politik abzulenken versucht. Zum Abschluss des virtuellen Jahrestreffens seiner konservativen Partei versprach der Premierminister erneut massive Investitionen in die öffentliche Infrastruktur sowie eine grüne industrielle Revolution und beteuerte: "Wir lassen uns vom Virus nicht unterkriegen."

Ihre jährlichen Zusammenkünfte nutzen die britischen Parteien normalerweise einerseits zum Auffüllen der stets klammen Kasse, andererseits zur Schärfung ihres inhaltlichen Profils. Die detaillierte Analyse der Ansprachen des Vorsitzenden und der wichtigen Ressortsprecher gilt in der politischen Klasse als Pflicht.

Gesetzesinitiativen Mangelware

Weil diesmal wegen Sars-CoV-2 sämtliche Jahrestreffen virtuell steigen mussten, fielen die Veranstaltungen von Labour, Grünen und Liberaldemokraten gar nicht weiter auf. Die Regierungspartei hingegen warb offensiv für die Teilnahme per Mausklick, worunter die Leistungsfähigkeit der Tory-Website immer wieder stark litt. Zudem blieben, anders als sonst, Initiativen für weitreichende neue Gesetze Mangelware. Dass die erzkonservative Innenministerin Priti Patel wieder einmal eine Reform der als zu lasch empfundenen Asylgesetze ankündigte, nahm die Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis – Patels Idee einer Unterbringung von Asylwerbern auf früheren Gefängnisschiffen hatte einer ihrer Labour-Vorgänger bereits 2002 aufgebracht, ohne sichtbare Folgen.

Boris Johnson spricht zu den Tories.
Foto: imago images/Parsons Media

Für den Regierungschef mag das ungewohnte Format durchaus Vorteile gehabt haben. Zwar hat Johnson über die Jahre das konservative Fußvolk immer wieder zu Begeisterungsstürmen gebracht, seine Auftritte beim Parteitag überschatteten häufig seine Vorgänger im Premiersamt, David Cameron und Theresa May. Zehn Monate nach dem deutlichen Wahlsieg aber ist den Konservativen kaum nach Triumphgeheul zumute; vielmehr hat sich bei Mitgliedern und Aktivisten erhebliche Kritik an Johnson und seiner Regierung aufgestaut. Der Premier steht im Kreuzfeuer von Partei und Land, weil in der Corona-Bekämpfung immer neue Pannen passieren und am Jahresende der Chaos-Brexit droht.

"Ich war zu fett"

Von beidem war in Johnsons 30-minütiger Rede nur am Rande die Rede. Offensiv stellte sich der 56-Jährige den seit Wochen umlaufenden Gerüchten entgegen, er sei von seiner schweren Covid-19-Erkrankung Anfang April nie richtig genesen, weshalb ihm nun der Schwung fehle. Das sei Unsinn, sagte Johnson, wiederholte aber seine Erklärung, warum das Virus ihm so schwer zusetzen konnte: "Freunde, ich war zu fett." Im letzten halben Jahr habe er 13 Kilo abgenommen und achte mehr auf seine Fitness.

Mit keinem Wort ging der Premier hingegen auf das beherrschende Thema der vergangenen Tage ein: Die ohnehin vielkritisierte, von Privatfirmen zentral organisierte Verfolgung von Kontaktinfizierten (track & trace) hatte durch Übermittlungsfehler von Labors zur Gesundheitsbehörde PHE mehr als 15.000 Fälle positiver Corona-Tests unter den Tisch fallen lassen. Die Suche nach wohl mindestens 50.000 möglichen Kontaktinfizierten dauert an. Gesundheitsminister Matthew Hancock und seine Verantwortlichen würden "Menschenleben aufs Spiel setzen", klagte Labour-Gesundheitssprecher Jonathan Ashworth im Unterhaus. Die Chefs nordenglischer Städte wie Manchester, Liverpool und Newcastle, die seit Wochen wegen täglich hunderter Neuinfizierter zusätzliche Restriktionen erdulden müssen, fühlen sich von London ignoriert. Es handle sich um "eine weitere katastrophale Fehlleistung einer inkompetenten Regierung, die ein vermeidbares Desaster nach dem anderen fabriziert", glaubt Newcastles Rathauschef Nick Forbes (Labour).

Schlechte Umfragewerte

Solcherlei Einlassungen der Opposition tut Johnson gern als unpatriotisches Gerede ab. Zuletzt häufte sich aber auch Kritik einst loyaler konservativer Medien wie der Tageszeitung "Telegraph" und dem Wochenmagazin "Spectator", dem der gelernte Journalist einst selbst vorstand. Die Bevölkerung denkt ähnlich. Mitte September bewerteten nur noch 30 Prozent der Briten die Arbeit der Regierung im Kampf gegen Sars-CoV-2 als gut (Italien: 75 Prozent). Regelmäßig liegt neuerdings bei der Frage nach dem besten Premierminister Labour-Oppositionsführer Keir Starmer deutlich vor dem Amtsinhaber.

Am Dienstag versuchte Johnson die gegenwärtige Misere mit der Aussicht auf mittel- und langfristige Vorhaben vergessen zu machen. Zentrales Anliegen der "grünen industriellen Revolution" soll dabei der Ausbau der Offshore-Windenergie sein. Bereits in zehn Jahren könne der Energiebedarf des gesamten Landes durch Windräder in der Nordsee gedeckt werden, stellte Johnson in Aussicht. (Sebastian Borger aus London, 6.10.2020)