Während des Lockdowns eingerichtetes Betreuungszentrum in der Wiener Messehalle, um Spitäler vor der Überlastung zu schützen: Verträgt sich die Corona-Bekämpfung mit Bettenabbau?

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Es ist eine heftig umstrittene Frage: Sind die vergleichsweise vielen Spitalsbetten in Österreich teurer Überfluss oder Lebensversicherung in der Corona-Krise? So mancher Experte fordert seit Jahren einen Abbau und rückte davon auch in der Pandemie nicht ab. Das Land bei der ersten Welle im Frühjahr mit der Hälfte der Betten ausgekommen, sagte etwa Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS) im STANDARD: Bei einem guten Frühwarnsystem müssten viele Erkrankte erst gar nicht ins Spital.

Vor allem die Sozialdemokraten stellen sich dem entgegen, allen voran Peter Hacker. Selbst wenn die Kapazitäten bisher nicht annähernd ausgelastet waren, müssten die Spitäler für den Worst Case gerüstet sein, konterte Wiens Gesundheitsstadtrat. Der propagierte massive Bettenabbau münde in ein Gesundheitssystem, "wo die Geldbörse des Einzelnen zählt".

Aktuelle Zahlen rücken den Streit nun in ein neues Licht. Denn laut der Antwort des Gesundheitsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage der Neos hat auch das rote Wien Spitalsbetten gestrichen. Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl in der Bundeshauptstadt um 18 Prozent von 11.210 auf 9227 gesunken. Österreichweit gerechnet war die Reduktion mit 14 Prozent geringer. Der Abbau sei sinnvoll, sagt Neos-Gesundheitssprecher Gerald Loacker, "doch Wort und Tat passen nicht zusammen. Hacker verkauft politisch etwas anderes, als er tut."

Das will sich der Angesprochene nicht nachsagen lassen: Von einem Widerspruch könne keine Rede sein, lautet die Erwiderung aus Hackers Büro. Ja, auch Wien habe Betten abgebaut, zumal der medizinische Fortschritt Spitalsaufenthalte verkürze oder überflüssig machen. Ob Dialyse für Nierenkranke, Grauer-Star-Operation an den Augen oder Chemotherapie für Krebspatienten: Immer mehr Behandlungen ließen sich ambulant durchführen. Doch es komme auf die Dimension an, so Hackers Argumentation. Wien reduziere nach Bedarf und deshalb viel moderater als in diversen Sparplänen gefordert.

Es mangelt an Kassenärzten

Tatsächlich hat der Rechnungshof 2015 den EU-Schnitt als Richtmarke definiert. Demnach hätte Österreich gleich 40 Prozent der Akutbetten – Fachbegriff für normale Spitalsbetten – auflassen müssen.

Zum Ziel an sich haben sich aber alle Bundesländer in einem Vertrag mit dem Gesundheitsministerium und der Sozialversicherung verpflichtet. Abgesehen von Tirol, wo die Zahl gleich blieb, wurde die Bettenzahl seit 2000 auch überall heruntergefahren – um sieben Prozent (Niederösterreich) bis 29 Prozent (Kärnten). Um für Patienten keine Lücken aufzureißen, sollten dafür Primärversorgungszentren und andere Angebote abseits der Spitalsstationen ausgebaut werden. Doch daran hapert es. Pro 100.000 Einwohner ist die Zahl der Ärzte mit Krankenkassenvertrag gesunken.

Auf dem Weg zur Drehtürmedizin

Wieder sehen die Neos in Wien ein Versäumnis, wieder wehrt sich Hackers Büro: Die Stadt fördere die Versorgung nach Kräften, aber der Schlüssel liege bei den Ärzten und der Sozialversicherung, die diese Leistungen in erster Linie finanziere.

Experte Czypionka erklärt das Problem mit Anreizen im System. Weil die Sozialversicherung aus Budgetgründen bei den Tarifen für die Ärzte sparen muss, könnten diese nur zu steigenden Einnahmen kommen, indem sie jeweils immer mehr Patienten behandelten. Nebenwirkung: Massenabfertigung via "Drehtürmedizin". (Gerald John, 7.10.2020)