Exzessiv mit sich selbst beschäftigte Individuen: "Blue Moon you saw" im Odeon.

Foto: Michael Loizenbauer

Während des Kalten Krieges stand die Welt wiederholt vor der nuklearen Apokalypse. Auch 1961, als die Berliner Mauer gebaut wurde und die Sowjetunion die Zar-Bombe zündete, den wuchtigsten Wasserstoffkracher aller Zeiten. In diese Zeit passte Alain Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad, in dem Spielfiguren Dinge tun, die sich wunderbar jeglicher Vernunft und Nützlichkeit entziehen.

Etwas ganz Ähnliches bestimmt Liquid Lofts neues Stück Blue Moon you saw, dessen Uraufführung Impulstanz gerade im Wiener Odeon zeigt. Vier Frauen und ebensoviele Männer verwandeln die tempelähnliche Bühne in einen Ort zwischen Traum und Jenseits. Sie alle tragen je einen kleinen Lautsprecher mit sich, aus dem etwas spricht, dem sie ihr Verhalten anpassen.

Narzissmus und Selbstentfremdung

Schon seit langem sind die Figuren in den Arbeiten des Liquid-Loft-Choreografen Chris Haring ihrer eigenen Stimmen beraubt. Blue Moon you saw zeigt jetzt acht intensiv mit sich selbst beschäftigte Individuen, die zugleich exzessiv fremdbestimmt und damit frei von allem Eigenen sind: Narzissmus und Selbstentfremdung fügen sich nahtlos ineinander.

Obwohl Letztes Jahr in Marienbad erklärtermaßen ein wichtiger Einfluss gewesen ist und wieder ein Kalter Krieg hinter Covid und Klimakrise dräut, bleibt Harings Stück atmosphärisch nüchterner als Resnais’ Film.

Die Einsamkeit der Tänzer im Odeon hängt an einem gegenwärtigen Albtraum: Sie wechseln unablässig ihre Stimmen und tanzen ab in ein Nirwana endloser digitaler Brabbel-Kommunikation. Das passiert in einer überaus detailliert und präzise gearbeiteten Choreografie, bei der die Liquid-Loft-Tänzer ihre darstellerischen Fähigkeiten voll zur Wirkung bringen. Bis 10.10. (ploe, 8.10.2020)