Für den Prozess sind 25 Verhandlungstage im Kriminalgericht anberaumt. Ein Urteil könnte im Jänner fallen.

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Der 23. August 2019 war in Berlin ein sonniger Tag. Durch den "kleinen Tiergarten" unweit des Regierungsviertels flanieren Menschen, auf den Spielplätzen turnen Kinder herum. Zu Mittag kurz vor zwölf Uhr ist auch Zelimkhan Khangoschwili (40) unterwegs, ein Georgier, der im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft hat. In Georgien hat er 2015 ein Attentat überlebt, sich dann aber unsicher gefühlt. Also verließ er mit seiner Familie das Land und suchte 2016 in Deutschland um Asyl an. Nie habe er geglaubt, dass er in Berlin nicht sicher sein könnte, hat seine Witwe der Bild-Zeitung gesagt. Und dass sie gleich geahnt habe, wer der Tote sei, als sie am 23. August 2019 in den Nachrichten vom Mord im Tiergarten hörte.

14 Monate später sitzt jener Mann, der Khangoschwili erschossen haben soll, hinter Panzerglas im Sicherheitssaal des Berliner Kriminalgerichts. Zu Beginn der Verhandlung wendet sich Richter Olaf Arnoldi vom Berliner Staatsschutzsenat mit einer eher ungewöhnlichen Bemerkung an ihn: "Ich werde Sie Herr Angeklagter nennen", stellt er klar, und ein Dolmetscher übersetzt dies ins Russische. Der Angesprochene reagiert kaum. Er trägt ein weißes Hemd, natürlich Mundschutz, ist klein und schmächtig. Fotografieren oder filmen darf man ihn zum Auftakt der Verhandlung nicht.

Wer ist "Herr Angeklagter"?

Warum der Richter nicht einfach den Namen des Mannes nennt, hat einen Grund: Es gibt zwei Identitäten. Von Wadim Krasnikow, 55 Jahre alt, russischer Staatsbürger, spricht der Generalbundesanwalt, der den Fall wegen der politischen Dimension an sich gezogen hat. Doch der Angeklagte selbst schweigt an diesem ersten Prozesstag wie auch schon bisher. Er lässt nur durch einen seiner drei Anwälte erklären: "Ich heiße nicht Krasikow." Vielmehr sei sein Name Wadim Sokolow. Wohl sei er russischer Staatsbürger, allerdings nicht 55, sondern 50 Jahre alt.

Eindeutig hingegen ist die Anklage, die danach verlesen wird. Krasikow alias Sokolow habe sich seinem Opfer im kleinen Tiergarten auf einem Fahrrad genähert, ihm mit einer Faustfeuerwaffe des Typs Glock 26 mit aufgesetztem Schalldämpfer zuerst in die Brust geschossen, dann noch zweimal in den Kopf. Da sei der Georgier schon auf dem Boden gelegen.

Keine Regung

Als dies zur Sprache kommt, beginnt eine Angehörige des Opfers laut zu weinen. Der Angeklagte zeigt keine Regung – auch nicht, als die Hintergründe erläutert werden. Die Bundesanwaltschaft geht in der Anklage davon aus, dass der mutmaßliche Täter von "staatlichen Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation" beauftragt wurde, das Opfer zu "liquidieren".

"Aus Sicht der russischen Regierung war das Opfer ein Staatsfeind", sagt Bundesanwalt Ronald Georg. Für das Motiv sieht er zwei Möglichkeiten: Entweder sei Geld geflossen, oder der Angeklagte sei ein politischer Unterstützer des russischen Regimes. Die Ermittler haben die Einreise des Russen nach Deutschland nachgezeichnet: Er war kurz vorher in Paris, dann in Warschau, von dort kam er erst einen Tag vor dem Mord nach Deutschland.

Fahrrad in der Spree

Am Tag der Tat versuchte er zunächst auf dem Fahrrad zu flüchten, warf dieses sowie seine Perücke dann aber in die Spree und wollte auf einen bereitstehenden E-Scooter umsteigen. Da Zeugen die Polizei gerufen hatten, konnte der Mann jedoch festgenommen werden. "Zunächst" werde sich sein Mandant nicht äußern, sagt einer der Anwälte des Angeklagten. Täte er es, könnte er vielleicht erklären, warum er für die Einreise in den Schengenraum ein Visum benutzte, das ihn als Bauingenieur einer Sankt Petersburger Firma auswies, die die gleiche Telefonnummer hatte wie ein Unternehmen des Moskauer Verteidigungsministeriums.

Laut den deutschen Ermittlern wird der Angeklagte auch verdächtigt, 2013 in Moskau einen Geschäftsmann vom Fahrrad aus erschossen zu haben. Die Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny belastet die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau schwer, der hier vorliegende Prozess dürfte sie nicht verbessern. Weil Russland bei den Ermittlungen nicht kooperiert, wurden bereits zwei Diplomaten aus Deutschland ausgewiesen. Auch Moskau erklärte deutsche Diplomaten zu unerwünschten Personen.

Einmal nur hat sich Putin zu dem Mord im Tiergarten geäußert und das Opfer einen "blutrünstigen Banditen" genannt. Der Angeklagte sitzt seit seiner Verhaftung in Untersuchungshaft – derzeit an einem unbekannten Ort außerhalb von Berlin. Der BND hatte davor gewarnt, dass er in der Haft umgebracht werden könnte. (Birgit Baumann aus Berlin, 7.10.2020)