Das würde auch die Frage, zu welcher Nationalität man sich bekennt, ein für alle Mal obsolet machen, so der zweisprachige Lyriker Jani Oswald.

Während das offizielle Kärnten den 100. Jahrestag der Volksabstimmung über den staatlichen Verbleib seiner südlichen Landesteile begeht, fragt sich mancher Zeitgenosse, wie mit derartigen Ereignissen umzugehen sei.

Vielleicht hilft eine Betrachtung der Entwicklung aus zeitlicher Distanz: War es ein Akt der nationalen Selbstbestimmung? Der Sieg eines Nationalismus über einen anderen? Ein grundlegender Akt des Völkerrechts und der Demokratie? Wohin bewegt sich die heutige politische Landkarte in Europa? Wie die Zukunft gestalten bei Grenzfragen, Volksgruppenthemen, regionaler (Selbst-)Verwaltung, staatlichem Zentralismus und/oder Föderalismus – in Zeiten der Globalisierung?

Der historische Zeitraffer seit 1920 lässt teilweise erschaudern. Rücken 100 Jahre nach der Kärntner Volksabstimmung die Regionen näher zusammen?
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Brutale Germanisierungskampagne

Der historische Zeitraffer seit dem Kärntner Plebiszit lässt uns teilweise erschaudern. In den 1920er-Jahren gab es eine brutale Germanisierungskampagne, um "falsch" abgestimmt habende slowenische Kärntner wieder zu "Kärntnern" zu machen. Die 30er-Jahre brachten einen beschämenden Wettstreit von Austrofaschismus ("Wir sind die besseren Deutschen") und illegalem Nazitum. Die 40er-Jahre: Krieg, Zerstörung, Vernichtungslager, aber auch bewaffneter Freiheitskampf in den Südkärntner Wäldern ("Achtung: Bandengebiet") – und danach? Postnational-sozialistische beziehungsweise post-nationalsozialistische Kontinuität der Nachkriegsjahre. 1950 bis 1970: Wiederaufbau, geistiger Stillstand. 1970: offizielle 50-Jahr-Feier des Landes zur Volksabstimmung als heimattümelnde deutschnationale Demonstration.

Die 70er-, 80er- und 90er-Jahre waren gekennzeichnet durch den Ortstafelkonflikt, die amtliche zweisprachige Topografie wurde in einem organisierten "Volkssturm" orgiastisch abmontiert, danach folgten Jahrzehnte beschämenden politischen Ringens um eine sogenannte Befriedung des Landes. Die Volksgruppenfrage wurde gleichzeitig aber auch eines der zentralen gesellschaftspolitischen Anliegen der österreichischen Zivilgesellschaft, bis schließlich 2011 ein politischer Kompromiss auf sehr niedrigem Niveau erzielt werden konnte. Alles in Ordnung also, nur ein wenig zeitverzögert? Keineswegs!

Veraltetes Konzept

Bereits 1920 war die Lösung von Grenzfragen zwischen neu entstehenden Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie nach nationalen oder besser gesagt "völkischen" Kriterien für ein gemischtsprachiges Gebiet mittels Plebiszit vielleicht die übliche Vorgangsweise, aber mit Sicherheit von teils erheblichen Kollateralschäden begleitet. Staatsgrenzen wurden zwar neu definiert, nationale Konflikte aber dadurch meist erst recht befeuert. Das veraltete Konzept eines homogenisierenden Nationalstaats aus dem 19. Jahrhundert erwies sich in der Praxis als nicht lösungsorientiert. Bezeichnenderweise haben in der Frage Südkärntens die politischen Eliten, sowohl beider Konfliktparteien als auch der Siegermächte des Ersten Weltkriegs, keinerlei Energie mit Fragen politischer Autonomie, paritätischer regionaler Selbstverwaltung, Freihandelszonen oder dauerhaft entmilitarisierten Gebieten verschwendet. Wozu auch? Es galt offensichtlich lediglich Gebietsgewinne vorbei an den Bedürfnissen der Menschen zu erzielen und die Reihen für kommende, noch größere Auseinandersetzungen zu schließen.

Stand vor 100 Jahren das Beherrschen umstrittener Territorien im Vordergrund, sind wir heute Zeugen einer zunehmenden "Ent-Territorialisierung": Die Mobilität breiter Bevölkerungskreise verwischt zuweilen immer stärker bestehende und ehemalige Grenzen, speziell im EU-Schengenraum. Grenzabschottungen aufgrund epidemiologischer Vorwände und opportunistische Manöver zur Verhinderung sogenannter illegaler Migration werden die generelle Entwicklung nicht wirklich aufhalten können. Bilaterale Tagesmigration vom und zum Arbeitsplatz, individuelle Reisetätigkeit "einmal kurz auf die andere Seite" und vieles mehr haben im persönlichen Alltag der Menschen nicht nur Regionen näher zueinander rücken lassen, sondern fördern auch die Erhaltung bestehender und die Bildung neuer Identifikationsmerkmale der in den Regionen lebenden Bevölkerung. Wir definieren uns zunehmend nicht mehr in den Kategorien entweder/oder, sondern in sowohl / als auch, als mehreres gleichzeitig, geografisch, kulturell, sprachlich, religiös, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Hybride Identitäten sind heute eher der Regelfall als die Ausnahme.

Neues Kapitel

Wäre das nicht ein guter Anknüpfungspunkt für neue Richtungen der regionalen politischen Entwicklung? Ein neues Kapitel der Vielfalt nach der Einfalt der Einheit der Landes? Hybridität und Mehrschichtigkeit verlangen freilich nach differenzierteren Ansätzen, als sie uns die derzeitige Politik anbietet, jedenfalls abseits aller populistischen Vereinfachungen.

Für Kärnten hieße dies zum Beispiel, endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht nur um verbriefte Rechte einer slowenischen Volksgruppe geht, Ortstafeln, Amtssprachen, immaterielles Kulturerbe, sondern dass alle (!) Kärntner, auch die Deutsch sprechenden Landsleute, ein Anrecht auf aktiven Genuss der Zweisprachigkeit haben. Es sollten schließlich alle Bürger an der kulturellen Vielfalt des Landes teilhaben können. Das lässt sich freilich nicht von einem Tag auf den anderen umsetzen. Der obligatorische Unterricht beider Landessprachen in den Schulen wäre ein erster Schritt, damit künftige Generationen von der Vielfalt auch persönlich Nutzen ziehen können und die Frage, zu welcher Nationalität sich wer wann wo bekennt, ein für alle Mal obsolet würde. Wie viele 10. Oktober müssen noch vergehen, dass wir das erleben können? (Jani Oswald, 8.10.2020)