In Indien wurden offiziell bisher über 82 Millionen Corona-Tests durchgeführt. Allein am Mittwoch waren es über eine Million.

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Durga Puja heißt das größte Spektakel des Jahres in Kolkata. Zu Ehren der Hindu-Göttin Durga verwandelt sich die ganze Stadt jeden Herbst in ein Meer von hellerleuchteten Pop-up-Tempeln, in denen die 4,5 Millionen Einwohner der indischen Megacity der Göttin huldigen. Längst hat sich aus dem religiösen Ritual ein gesellschaftliches Großereignis entwickelt. Doch dieses Jahr ist alles anders. Covid-19 macht den bevorstehenden Festivals einen Strich durch die Rechnung. Navratri, Durga Puja oder das Lichterfest Diwali im November: Ja, es wird aufgebaut, ja, die Feierlichkeiten werden stattfinden – aber unter ganz anderen Vorzeichen.

Schon seit dem Sommer blickt die Politik der Festivalsaison mit Bauchweh entgegen. Das Land hatte im März einen strikten Lockdown umgesetzt. Nach Monaten des Stillstands stöhnen die Menschen aufgrund des Wirtschaftseinbruchs. Vor allem Tagelöhner und Wanderarbeiter sind um ihre Grundlagen umgefallen. Sie begrüßen die langersehnten Lockerungen, die seit September ausgerollt werden. Die Schulen sperren auf, die Restaurants dürfen wieder Gäste begrüßen. Doch ist das System bereit für die Festivalsaison?

Sechs Millionen Infizierte

Wie alles, was in Indien mit Zahlen zu tun hat, ist auch die Zahl der Corona-Infektionen gewaltig. 6,76 Millionen Menschen haben sich in Indien bisher angesteckt – bloß die USA liegen vor dem Subkontinent. Auch was die Todeszahlen betrifft, musste Delhi am Wochenende einen traurigen Rekord verkünden: Mehr als 100.000 Menschen waren bisher an dem Virus verstorben. Und bei den täglichen Neuinfektionen liegt das Land weltweit an der Spitze.

Allerdings konnte Delhi Mitte September erstmals aufatmen: Nach einem Peak von fast 100.000 Neuinfektionen an einem Tag stabilisieren sich die Zahlen nun erstmals.

Vor allem aber müssen die absoluten Zahlen in Relation zur Gesamtbevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen gesehen werden. Im relativen Vergleich liegt Indien weltweit im Mittelfeld. Während Österreich laut ourworldindata.org auf knapp 5600 Infizierte pro eine Million Einwohner kommt, sind es in Indien bloß knapp 4900. Die USA verzeichnen 22.600, weltweit führt Katar die Liste mit knapp 44.000 an. Das Gesundheitsministerium in Delhi gab außerdem vor wenigen Tagen bekannt, dass in Indien die Genesungsrate bei knapp 85 Prozent liegt – auch das ist die höchste der Welt.

Auch was die Impfstoffproduktion betrifft, spielt Indien vorn mit. Das Serum Institute of India kollaboriert mit dem Konzern Astra Zeneca, der in der ersten Hälfte 2021 einen Impfstoff marktreif haben will. Indische Wissenschaftler haben außerdem einen billigen Corona-Schnelltest hergestellt: Für umgerechnet fünf Euro kann man in unter 15 Minuten sein Ergebnis haben.

Menschenrechte unerwünscht

Die guten Nachrichten sind aber nur eine Seite der Medaille: Experten gehen davon aus, dass die Infektionsraten um ein Vielfaches höher liegen als offiziell angegeben. Sogar das nationale Indian Council of Medical Research schätzt, dass auf jede erkannte Infektion zehn unerkannte kommen – was über 60 Millionen Infizierte bedeuten würde. Außerdem wird befürchtet, dass die Sterblichkeit steigen wird, weil die Infektionen von urbanen Hotspots ins Hinterland abgewandert sind. Dort ist die medizinische Versorgung oft unzureichend.

Die Regierung der hindunationalistischen BJP unter Narendra Modi versucht jedenfalls mit viel Mühe, die bisherigen Maßnahmen in positivem Licht erscheinen zu lassen. So wächst der Druck auf Journalisten, die ein anderes Bild aufzeigen wollen: Supriya Sharma, Chefredakteur der regierungskritischen Nachrichtenplattform scroll.in, wurde wegen Diffamierung angeklagt. Ein Thinktank aus Delhi berichtet, dass seit März 55 Journalisten aufgrund ihrer Corona-Berichterstattung verhaftet oder verhört wurden.

Und auch die internationale NGO Amnesty International ist nicht mehr erwünscht: Im September musste die Menschenrechtsorganisation all ihre Tätigkeiten in der größten Demokratie der Welt einstellen. Amnesty sieht darin eine "Hexenjagd auf Menschenrechtsorganisationen durch die indische Regierung". Das indische Innenministerium begründet den Schritt mit der Missachtung von Finanzrecht. (Anna Sawerthal, 7.10.2020)