Die Initiatoren und Verfasser der Erklärung: Martin Kulldorff von der Universität Harvard, Sunetra Gupta von der Universität Oxford und Jay Bhattacharya von der Universität Stanford (von links nach rechts).

American Institute for Economic Research

Aktuell steigen die Zahlen der mit dem neuen Coronavirus Infizierten in vielen Ländern wieder besonders stark an. Etliche Regierungen verhängten deshalb neue Maßnahmen, um die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Just in dieser Phase legen angesehene Mediziner etlicher britischer und US-Top-Universitäten eine Erklärung vor, die Regierungen auffordert, bei der Pandemiebekämpfung radikal umzudenken.

Statt mit bevölkerungsweiten Strategien weiterzumachen, plädieren die Initiatoren Sunetra Gupta von der Universität Oxford, Jay Bhattacharya (Uni Stanford) und Martin Kulldorff (Uni Harvard) für einen Ansatz, den sie "gezielten Schutz" (focused protection) nennen.

Abschirmung der Älteren

Das vorgeschlagene Konzept ist recht simpel: Da Todesfälle aufgrund von Covid-19 zu einem ganz überwiegenden Teil bei älteren Personen auftreten, sollten diese (konkret: Personen ab 60 Jahren) besser abgeschirmt werden. Dadurch sollte es ermöglicht werden, dass die Mehrheit der jungen und gesunden Menschen, die keine schweren Krankheitsverläufe zu befürchten haben, wieder ein normales Leben führen können. Dadurch wiederum würde Herdenimmunität möglich, von der – bis zu den Impfungen – letztlich alle profitieren.

Die medizinischen Hauptargumente der sogenannten Erklärung von Great Barrington – ausgearbeitet und unterzeichnet im marktliberalen Thinktank American Institute for Economic Research in Great Barrington in Massachusetts – klingen plausibel: Die Covid-19-Maßnahmen hätten verheerende Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit, da sie die medizinische Routineversorgung beeinträchtigen und der psychischen Gesundheit schaden.

Bei all dem hätten die Unterprivilegierten die größte Last zu tragen: ärmere Bevölkerungsschichten sowie Kinder und Jugendliche. Dazu kämen die unabsehbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Maßnahmen, die sich so wiederum langfristig wiederum auf die Gesundheit auswirken.

UnHerd

Befürworter und Kritiker

Diese Erklärung, die seit Sonntag online ist und bis Mittwochnachmittag von 3.000 Medizinern und Wissenschaftern, 4.000 praktizierenden Ärzten und mehr als 60.000 anderen Personen unterzeichnet wurde, markiert den jüngsten internationalen Höhepunkt in einer heftigen Debatte unter Experten, die radikal divergierende Herangehensweisen zur Bewältigung der Krise befürworten. Diese Debatte hat am Mittwoch auch in Österreich einige Mediziner auf den Plan gerufen, die bisherigen Maßnahmen zu kritisieren.

Prompt gibt es zahlreiche Mediziner und Forscher, die zentrale Vorschläge der Great Barrington Erklärung und deren Umsetzbarkeit anzweifelten. Auch wenn viele dieser Experten dem Kernanliegen Verständnis entgegenbringen, die gesundheitlichen Kollateralschäden der Pandemie gering zu halten, zweifelten die meisten an der praktischen Durchführbarkeit.

Wer sind die Schutzbedürftigen?

Rupert Bale (Crick Institute in London) verwies etwa darauf, dass es schwierig sei, all jene Personen klar zu definieren, für die der gezielte Schutz gelten sollte. Zudem dürften das bis zu 30 Prozent der Bevölkerung sein, wie ein anderer Kritiker moniert. Auch gebe es in der Erklärung keine konkreten Konzepte, wie diese konkreten Schutzmaßnahmen aussehen sollten – etwa für ältere Personen, die mit jüngeren in einem gemeinsamen Haushalt leben. Herdenimmunität ohne Impfung zu erreichen sei "Wunschdenken", meint Bale.

Andere britische Experten verweisen darauf, dass ein ähnlicher Ansatz von der englischen Regierung kurz vor dem Lockdown versucht wurde und zu vielen vermeidbaren Toten geführt hat. Zudem würde eine Isolierung einer Gruppe von Menschen jede Menge unabsehbarer Kollateralschäden für eben diese Gruppe bedeuten.

Praktikablere Vorschläge für alle

Man darf annehmen, dass der Vorschlag in den nächsten Wochen eher keine unmittelbare politische Umsetzung finden wird. Christian Drosten machte indessen in der Wochenzeitung "Die Zeit" einige konkrete Vorschläge, die eher umsetzbar scheinen. Denn wir hätten es seiner Meinung nach selbst mit vielen kleinen Alltagsentscheidungen in der Hand, die Krise zu bewältigen: etwa bei Restaurant- oder Cafébesuchen eher draußen als drinnen zu sitzen oder sich vor dem Elternbesuch zu Weihnachten für ein paar Tage in Selbstquarantäne zu begeben. (Klaus Taschwer, 8.10.2020)