Wien, Stephansplatz, während des Lockdowns in Frühjahr: Vergleichsweise wenige Menschen waren unterwegs.

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Dröhnende Baustellen, hupende Autos – der Lärm in Metropolen ist zuweilen infernalisch. Doch während des Lockdowns, als das öffentliche Leben stillstand, als Geschäfte geschlossen und kaum noch Autos unterwegs waren, kehrte in den Städten die Stille zurück.

In San Francisco hörte man das Meeresrauschen. Auf dem Marsfeld in Paris vor dem Eiffelturm, wo sonst Heerscharen von Touristen giggeln und mit Selfiesticks bewaffnet herumkreischen, hörte man den Kirchturm läuten. Und in der Betonwüste von Manhattan hörte man plötzlich wieder Vögel zwitschern.

Die Naturkulisse war so etwas wie der Soundtrack des Lockdowns. Da spazierten plötzlich Ziegen an Geschäften vorbei (in der walisischen Stadt Llandudno), heulten Schakale in Parks auf (in Tel Aviv), kreuzten Rehe auf, fielen sogar ganze Schafsherden in Städten ein (im türkischen Samsun). Jahrhundertelang hat der Mensch den Tieren ihren natürlichen Lebensraum entzogen. Jetzt eroberten die Tiere ihn zurück.

Hoher Lärmpegel

Lärmverschmutzung etwa durch Verkehrslärm ist eine der größten Umweltprobleme in Städten. Sie beeinträchtigt zahlreiche Arten, zum Beispiel Fledermäuse, die ihre Umwelt über Echoortung wahrnehmen. Die Ausgangssperren verschafften den gestressten Tieren eine Verschnaufpause.

Auch für den Menschen stellt der hohe Geräuschpegel eine Belastung dar. Lärm macht krank. Die Folgen reichen von hormonellen Störungen über Depressionen bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Doch die Städte werden immer lauter.

Die New York University hat im Rahmen ihres Forschungsprojekts Sonyc (Sounds of New York City) die Lärmverschmutzung in den letzten drei Jahren gemessen. Mithilfe eines Sensoren-Netzwerks wurde der Schall gemessen.

Das Ergebnis: Der Lärmpegel während des Lockdowns in New York lag deutlich unter dem Normalwert. Erreichte der Lärm Anfang März Spitzen von bis zu 70 Dezibel, pegelte sich die Geräuschkulisse Anfang Mai auf Werte zwischen 59 und 65 Dezibel ein. Die Tage klangen eher wie Nächte. Nur um 19 Uhr wurde an den Messstationen ein Anstieg des Geräuschniveaus um mehr als sechs Dezibel registriert – dann nämlich, als die Bewohner den Gesundheits- und Pflegekräften applaudierten.

Schallschutztechnologien

Doch diese Stille war womöglich nur ein kurzes Intermezzo. Längst fahren Mopeds über den Asphalt, röhren Sportwagen, grölen Partygäste auf den Plätzen. Wissenschafter forschen schon seit Jahren an Schallschutztechnologien, um Städte leiser zu machen.

Der Schlüssel ist die Stadtplanung: Durch natürliche Elemente wie Springbrunnenanlagen oder Gründächer, die den Schall schlucken, kann der Lärm reduziert werden. Auch eine verwinkelte Bauweise nach dem Vorbild der Superblocks in Barcelona, die die Geschwindigkeit von Autos und das Verkehrsaufkommen verringern, hilf beim Lärmschutz.

Der Klangarchitekt Andres Bosshard und der Urbanist Trond Maag legten 2014 ein innovatives Konzept für eine akustische Aufwertung des Freudenbergerplatzes in Bern vor: Durch die Installation zweier Wasservorhänge an Edelstahlgittern sollte ein akustischer Tunnel geschaffen werden, der den Verkehrslärm in der näheren Umgebung maskiert. Die Idee: Lärm in Klang verwandeln. Der Ort würde zwar nicht leiser, aber gastlicher.

In einem ähnlichen Projekt haben Wissenschafter der TU Berlin am Nauener Platz in Berlin Hörinseln installiert, die auf Knopfdruck Vogel- oder Wassergeräusche abspielen. Für das innovative Projekt wurden die Forscher 2012 mit dem European Soundscape Award ausgezeichnet.

Hoffnung macht auch die Elektrifizierung des Verkehrs: Wenn Elektroautos leise über den Asphalt surren, ist eine der größten Lärmquellen eliminiert – wobei Klangingenieure hier schon an synthetischen Sounds aus der Konserve tüfteln.

Klangraumplanung

Akustik spielte in der Raum- und Stadtplanung bis vor ein paar Jahren kaum eine Rolle. Doch in jüngster Zeit ist die Klangraumplanung unter Urbanisten stärker in den Fokus gerückt. Die ideale Stadt ist dabei keineswegs eine stille Stadt. Der Mensch braucht wohlige Geräusche wie Geplauder in Cafés als Klangteppich, sonst fühlt er sich unwohl. Klangarchitekten beschäftigen sich daher mit der Frage, wie man das Stadterlebnis auch zu einem akustischen Erlebnis machen kann. Kurz gesagt: Eine Stadt soll sich nicht nur sehen, sondern auch hören lassen.

Jede Stadt hat ihren eigenen Sound: Das Ticken der Hongkonger Fußgängerampeln, das Zischen der Pariser Metro, die Sirenen der New Yorker Polizei – das hat jeder im Ohr, der schon mal dort war. Der kanadische Klangforscher R. Murray Schafer hat bereits vor Jahrzehnten herausgefunden, dass markante Geräusche Städten eine genuin akustische Identität verleihen. Wo sich Städte mit konfektionierten Ketten immer ähneln, ist der Klang ein Identitätsmarker. So wie ein Geruch.

Stille wird zum Luxus

Die Frage ist: Welchen Sound will eine Stadtgesellschaft hören? Synthetisch oder natürlich – wie soll die Stadt der Zukunft klingen? Oder ist das am Ende egal, weil sich ohnehin jeder mit Kopfhörern in seine eigene akustische Filterblase spinnt?

Die Klangforscherin Marie Thompson schreibt in ihrem Buch Beyond Unwanted Sound: Noise, Affect, and Aesthetic Moralism, dass Stille zu einem Luxus geworden sei, den sich nur die Reichen leisten können. Ein Landhaus muss man sich leisten können. Doch wenn künftig mehr verkehrsberuhigte Straßen in den Städten sind, könnten urbane Ruheoasen vielleicht erschwinglich werden. (Adrian Lobe, 11.10.2020)