Es gibt den eher unschönen Ausdruck „Schnappatmung“, um einen kollektiven Aufschrei mehr oder minder Betroffener über eine ihnen nicht genehme politische oder gesellschaftliche Entscheidung zu beschreiben. Eben solches konnte beobachtet werden, als der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten vor kurzem verlautbarte, die durch das Ableben der populären Höchstrichterin Ruth Bader Ginsburg vakante Position mit einer neuen Kandidatin zu besetzen. Die Bundesrichterin Amy Coney Barrett wurde dann äußerst rasch für das neue Amt in Position gebracht – im Rahmen einer Zeremonie im Rose Garden des Weißen Hauses, die aktuell aus anderen Gründen in die Schlagzeilen geraten ist.

Medien überschlugen sich mit kritischen Kommentaren zu dieser Entscheidung. Die rasche Nominierung hat zu einem Teil auf der organisatorischen Ebene Missmut hervorgerufen, weil der Vorgang angesichts des herannahenden Wahltermins verschoben und dem nächsten Präsidenten überlassen hätte werden können. Dies umso mehr, weil mit Bader Ginsburg eine Persönlichkeit dieses Amt bekleidete, die darin geradezu Kultstatus erlangte.

Diese Debatte ist übrigens ein Déjà-vu mit umgekehrten Vorzeichen: 2016 verstarb der als "erzkonservativ" geltende Antonin Scalia (übrigens einer der Lehrer und Förderer von Barrett) im Februar und die Republikaner forderten Obama dazu auf, auf die Ernennung eines Nachfolgers wegen des Wahltermins (im November!) zu verzichten. Der damalige Präsident nominierte dennoch, doch wurde der weitere Vorgang durch den republikanisch dominierten Senat blockiert.

Eine Katholikin als Höchstrichterin

Weit darüber hinausgehend echauffierte man sich aber in der medialen Öffentlichkeit über die Tatsache, dass die Kandidatin ihre Zugehörigkeit zur katholischen Kirche immer wieder und in unterschiedlichen Zusammenhängen explizit hervorhob und damit in den Mittelpunkt einer Außenwahrnehmung geraten ließ. Dabei ist völlig außer Frage, dass sie selbst innerhalb des breiten Spektrums der katholischen Tradition eine sehr exponierte Position einnimmt. Sie ist laut  Medienberichten (die allerdings nie von ihr bestätigt wurden) Mitglied der sogenannten „People of Praise“, ein eher klandestines und sehr exklusives, primär von Katholiken, aber auch von Protestanten getragenes Netzwerk, das spezifische Elemente der christlichen Tradition besonders hervorhebt und zu beleben versucht. Die "People" propagieren zudem Praktiken, die nicht unbedingt Teil der katholischen Tradition sind und die man vor allem aus sogenannten charismatischen Gemeinschaften kennt.

Es war dann auch nicht schwer, der designierten Höchstrichterin diverse Aussagen entgegenzuhalten, die in unterschiedlichen Zusammenhängen gefallen sind. So hatte sie angeblich bei einer Rede an der katholischen Notre Dame University gesagt, dass sie sich und all ihr Tun ganz dem Aufbau eines „Reiches Gottes“ unterordnen würde. Abgesehen davon, dass die Aussagen aus ihrem spezifischen Kontext gerissen wurden, könnte man vergleichbare Statements aus unterschiedlichen Zusammenhängen auch von anderen US-amerikanischen Politikern, nicht nur der „konservativen“ Seite, zitieren. Oder auf die Tatsache hinweisen, dass die verstorbene Bader Ginsburg in ihrem Büro eine Reihe von Bibelzitaten prominent platziert hatte, die ihr für ihre jüdische Identität wichtig waren. Nicht auszudenken, wenn Selbiges im Büro von Barrett gesichtet würde.

Katholisch und konservativ: Die - vermutlich - neue US-Höchstrichterin Coney Barrett.
Foto: AP/Jonathan Ernst

Katholische Kirche in den USA

Der sehr kritische Blick auf Coney Barrett hat möglicherweise auch etwas mit der Wahrnehmung der Katholischen Kirche in den USA zu tun. Diese war lange Zeit de facto eine religiöse Minderheit, was sich erst im Laufe des letzten Jahrhunderts änderte - nicht zuletzt auch aufgrund des ständig wachsenden Zuzugs von Katholiken aus Lateinamerika. Katholiken wurden lange Zeit als zu europagebunden (weil potentiell Papsthörig) und damit eigentlich als Fremdkörper in der US-amerikanischen Gesellschaft wahrgenommen. Das Bild änderte sich erst langsam und bezeichnenderweise wurde erst 1961 mit John F. Kennedy das erste Mal ein Katholik Präsident der USA. Doch auch ihm war immer wieder der Vorwurf gemacht worden, sich mit dem Papst abzusprechen und damit einen massiven Fremdeinfluss zuzulassen.

Bis heute kann deshalb die Mitgliedschaft eines Politikers in der Katholischen Kirche zu recht eigenartigen Szenarien führen. So mussten beispielsweise 2016 die zwei republikanischen Präsidentschaftswahlkandidaten Rick Santorum und Jeb Bush (letzterer übrigens ein konvertierter Katholik) vor den eigenen Parteigenossen festhalten, dass sie beim Thema Klimawandel anderer Ansicht sind als der Papst. Dieser hatte nämlich in der damals veröffentlichten Enzyzklika "Laudato si'" sehr deutlich die Gefahren des angeblichen Klimawandels thematisiert, wovon ihre Linie wiederum gehörig abwich.

Politisch sind Katholiken in den USA heute laut vorliegenden Statistiken paritätisch auf Demokraten und Republikaner verteilt mit einem leichten demokratischen Überhang (vor allem unter den lateinamerikanischen Zuzüglern). Dabei vertritt die Katholische Kirche in einigen gesellschaftlichen Konfliktfeldern einige sehr exponierte Positionen, unter anderem im Zusammenhang mit der Frage der Gleichbehandlung von Homosexuellen (vor allem im Zusammenhang mit einem Eheverhältnis) oder in der Abtreibungsdebatte. Völlig außer Frage steht, dass sich Barrett ganz in diese Linie einfügt. Ihre offene Gegnerschaft zur Abtreibung ist dabei wohl das bekannteste Moment. Ihre religiöse Überzeugung macht sie aber auch zu einer Gegnerin der Todesstrafe, was in den USA ebenfalls eine sehr exponierte Positionierung darstellt.

Ein Reset der Verfassung?

Allerdings bleibt die Frage, wie viel von ihren religiösen Überzeugungen sie dann wirklich in ihrer Arbeit umsetzen wird können, wenn sie es überhaupt vorhat. In ihrer Dankesrede bei der zitierten Zeremonie betonte sie neben einem darob sichtlich säuerlich dreinblickenden Präsidenten, dass sie nur dem Recht, und nicht der Politik dienen werde. Auch in den kürzlich stattgefundenen Hearings vor dem Senat wich sie jeder Frage nach einem möglichen Sekundäreinfluss auf ihren Zugang zum Recht aus.

Welche Konsequenzen zudem weltanschauliche und religiöse Zuschreibungen bei den Kandidaten für den Supreme Court für die Entscheidungen haben, ist nicht so eindeutig erkennbar. Das bestätigt auch ein Blick auf einige aktuelle Entscheidungen, die ja schon von einer angeblichen "konservativen" Mehrheit bestimmt sind: In einem Fall wurden vorgeschlagene Einschränkungen des Rechts auf Abtreibung im Bundesstaat Louisiana aufgehoben, in einem anderen Fall die Diskriminierung von Homosexuellen auf der Ebene des Arbeitsrechts. Letztere Entscheidung wurde sogar als epochaler Erfolg für die LGBTIQ-Community gefeiert und beide genannten Fälle sind klassische Konfliktfelder im aktuellen gesellschaftlichen Leben, die – wenn der oberste Gerichtshof wirklich so konservativ geworden wäre – eigentlich anders hätten entschieden werden müssen. Durch die Installierung der Höchstrichter auf Lebenszeit ergibt sich zudem für jeden Berufenen eine maximale Entscheidungsfreiheit, wie sie gerade in den USA mit ihren ausgesprochen fluiden Besetzungsvorgängen im öffentlichen Kontext nur selten anzutreffen ist.

In diesem Zusammenhang ist übrigens die interessante Beobachtung anzubringen, dass von den neun Höchstrichtern aktuell sechs Katholiken sind und ein weiterer katholisch aufgewachsen ist (später aber zur anglikanischen Kirche konvertierte); die übrigen zwei sind Juden. Würden man den gängigen damit verbundenen Zuschreibungen trauen, wären die oben genannten Entscheidungen nicht möglich gewesen.

Äußerst wichtig für eine Einschätzung Barretts ist zudem ihre Zuordnung zu einer spezifischen Auslegungstradition der US-amerikanischen Verfassung, dem sogenannten „Originalismus“. Im Prinzip geht es dabei darum, die ursprüngliche, nicht von „Zusätzen“ oder diversen Gerichtsurteilen erweiterte Verfassung wieder in den Mittelpunkt der Urteilsbildung zu rücken. Es ist also im Selbstverständnis eine Art Reset der Rechtsprechung auf die Grundlagen des US-amerikanischen Staates.

Und in dieser Tradition können sich durchaus Überraschungen ergeben. So hat beispielsweise der schon erwähnte Lehrer Barretts, Antonin Scalia, der übrigens ebenfalls einem sehr konservativen Flügel der katholischen Kirche zugeordnet werden würde, maßgeblichen Anteil an einem wegweisenden Urteil zur Frage, ob mutmaßliche Terroristen ohne Anklage und nur auf Verdacht länger festgehalten werden können (wie dies im unseligen Gefangenenlager Guantanamo geschah), wogegen er sich aussprach. Oder seine Positionierung im Zusammenhang mit der Frage, ob man die US-amerikanische Flagge verbrennen darf, was er als freie Meinungsäußerung deklarierte. "Konservativ" würde man sich wohl anders vorstellen.

Was sich in diese heftige mediale Debatte insbesondere in europäischen Medien zudem noch einmischt, sind fundamentale Unterschiede zwischen Europa und den USA, wenn es um religiöse Zugehörigkeit an sich geht. Während der Verweis auf die Religiosität jemandes oder gar ein Hinweis, jemand sei „tiefreligiös“, hierzulande oft schon eher als Beschränkung und Ausweis einer mangelnden Eignung interpretiert wird, stellt sie für viele auch hochgebildete Amerikaner einen gewichtigen Teil ihres Selbstverständnisses dar. Und dies kann dann gerade bei so sensiblen Themen wie der zitierten Abtreibungsdebatte eine so große Bedeutung erlangen, dass man selbst Positionen und Personen unterstützt, die man eigentlich nicht schätzen würde.

Trump, die evangelikalen Christen und ein Mormone

Nur so ist im Übrigen zum Teil erklärbar, warum weite Strecken der christlichen Evangelikalen und auch (zumindest auf Basis der Umfragen) fast die Hälfte der Mitglieder der katholischen Kirche den aktuellen Präsidenten so scheinbar bedingungslos unterstützen, obwohl sie zweifellos um seinen situationselastischen Umgang mit zentralen Momenten einer christlichen Tradition wissen. Hier ist anzumerken, dass es innerhalb dieser genannten Bewegungen durchaus heftige Diskussionen darüber gibt. „Linke“ Gruppierungen innerhalb der Evangelikalen, die hierzulande weitgehend unbekannt sind, sprechen sich immer wieder deutlich gegen Trump aus.

Ein Beispiel wären die sogenannten Sojourners, die in den 1970er-Jahren begründet wurden und ihre religiösen Überzeugungen mit einem ausgeprägten sozialen Engagement verbinden. In ihrem einflussreichen und sehr weitverbreiteten gleichnamigen Magazin wird offen darüber debattiert, wie man gegen die „Trump Evangelikalen“ wieder Boden gewinnen kann – wohlgemerkt innerhalb der evangelikalen Kirchen. Solche Stimmen ließen sich auch aus der katholischen Kirche zitieren.

Zumal ja in der breiten Öffentlichkeit und innerhalb der republikanischen Partei die einzige wirklich gewichtige Person, die den Präsidenten öffentlich auf den offensichtlichen Abstand zu Grundlehren des Christentums anspricht, der einflussreiche Senator Mitt Romney ist, der ein bekennendes Mitglied (und Bischof) der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage, gemeinhin „Mormonen“ genannt, ist. Hier ist die vielzitierte Ironie der Geschichte zum Greifen nah: Lange Zeit waren Mormonen gerade von konservativer christlicher Seite immer wieder mit dem Vorwurf des unmoralischen Verhaltens konfrontiert worden (unter anderem aufgrund von deren polygamer Praxis im 19. Jahrhundert). Jetzt haben konservative christliche Kreise mit diesem Vorwurf zu leben. So ändern sich die Zeiten. (Franz Winter, 23.10.2020)

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