Die US-amerikanische Autorin Louise Glück erhält den diesjährigen Nobelpreis für Literatur.
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Die Entscheidung der Stockholmer Akademie für die US-Lyrikerin Louise Glück gleicht einer freundlichen, mit äußerstem Bedacht ausgesprochenen Einladung: die Welt, wie wir sie zu kennen meinen, stärker ursprungshaft anzusehen, um in den Tiefen poetischer Überlieferung nach echten Erfahrungen zu schürfen.

Glücks Werk, vornehmlich Gedichte und Essays, umfasst bis heute 16 Bände. Eine Literatur wie die ihre bedarf keiner betriebsliterarischen Beipackzettel. Mit einem Gedichtband wie Averno ist kein Diskurs zu eröffnen, keine Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen: am wenigsten diejenige, geboren worden zu sein, um in den leuchtenden (Herbst-)Wäldern Neuenglands vor dem metaphysischen Nichts zu stehen. Gepriesen wird die seit 2004 in Yale lehrende Autorin für die Bekenntnishaftigkeit ihrer Poesie. In dieser schmiegt Glück sich katzengleich der Alltagsrede an. Und doch fokussiert sie mit äußerstem Ernst, in einer Art von unendlichem Klagegesang, die Themen Verlust, Einsamkeit und Tod.

Wie auf Scherben blickt die Dichterin, wenn sie bekennt, zur plumpen Sachenwelt nur schwer Zutrauen zu fassen: "Ich versuchte, Materie zu lieben." Auf Englisch nimmt sich dieses Bekenntnis noch lakonischer aus ("I was trying to love matter"). Der bittere Witz folgt auf dem Versfuß: "Ich klebte ein Schild über den Spiegel: / Du kannst nicht Materie hassen und Form lieben."

Existenzielle Geworfenheit

In diesen vielstrophigen, von Nachdenklöchern und Atempausen strukturierten Gedichten wird Form (Vers, Reim, Metrum) niemals um ihrer selbst willen ausgestellt. Lieber springt Glück behände von Klippe zu Klippe. Sie tastet sich über lakonische Versenden hinweg, bewegt sich vorsichtigen Schrittes weiter, wechselt von Wörtern der Überlieferung hinüber ins eigene Gewissen: "AIAIAIAI schrie / der nackte Spiegel", heißt es scherbenklirrend am Ende von Archaisches Fragment. In ein fein durchgehörtes Deutsch übertragen wird das amerikanische Englisch der heute 77-Jährigen seit den Nullerjahren von der Münchner Kollegin Ulrike Draesner.

Vor allem aber zählt Louise Glück, die auf Long Island (New York) aufwuchs, um anschließend einige Jahre ziellos zu studieren, zu den getreuen Gespielinnen Persephones, der Unterweltgöttin. Glücks Karriere war von gelegentlichen Schreibblockaden begleitet, die Autorin verschmähte nicht psychoanalytische Behandlung, um sich ihr Gefühl existenzieller Geworfenheit wirksam zu vergegenwärtigen. Ihr Erstlingswerk (Firstborn) erschien 1968. Als poetisch Lehrende trat Glück ab 1971 am Goddard College in Vermont in Erscheinung.

Mit den Jahren immer deutlicher wurde die Vertikalstruktur von Glücks Dichten und Denken. Im Bild des Kratersees Averno (antik: "Avernus"), rund 15 Kilometer westlich von Neapel gelegen, findet sich die Bindung der Dichterin an das Rätsel der Unterwelt archetypisch ausgedrückt. Averno hieß nicht nur der Auswahlband, der 2007 bei Luchterhand erschien. Den kleinen See betrachteten die alten Römer als Einstiegsluke in den Hades.

Poesie der Persephone

Wie Vergil erforscht Louise Glück die Unterwelt. Einsamkeit, Vergessen, Liebesverlust: Als junge Persephone eilt sie an den Rand eines Teichs, immer noch mit dem "schrecklichen Mantel der Töchterlichkeit" bekleidet. Dort entsinnt sie sich der Umarmung durch den Unterweltgott. Von diesem Tag an wird sie (in dem Gedicht Ein Unschuldsmythos) von der "entmutigenden Einsicht" begleitet, ohne ihn – den Tod – kein Dasein fristen zu können. Zurückkehren zum Teich aber wird nicht das Mädchen, sondern eine Frau, die nach dem Mädchen sucht, das sie war. Erst im Thema der Verfehlung findet die Poesie der Moderne ganz zu sich.

Die zweimal Geschiedene hat es nicht verschmäht, das Substrat ihrer Erfahrungen in Poesie umzuschmelzen. Damit gehört sie heute zu den zentralen Erscheinungen angelsächsischer Literatur. Vielfach geehrt, weiß Glück ihr Schicksal als Dichterin dem Wirken der Gestirne ausgeliefert. Am Himmel prangt immer stärker das Licht des "ersten Sterns", der Venus, die zugleich in unüberbietbarer Klarheit "das Licht des Todes" spendet. Darin liegen für die Nachfahrin der delphischen Seherinnen Ansporn und Trost.

"Niemand kann härter als sie darin sein, die Illusionen des eigenen Selbst aufzudecken", würdigte das Nobelpreiskomitee Glücks Arbeit. Die Preisverleihung im Stockholmer Konzerthaus findet am 10. Dezember statt. Bis dahin dürfte Luchterhand die beiden vergriffenen deutschsprachigen Bände, Averno und Wilde Iris, nachgedruckt haben. (Ronald Pohl, 8.10.2020)