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Am 6. Oktober 1920 traf Adolf Hitler in St. Pölten ein, der fünften Station seiner ersten Wahlkampfreise in Österreich. Die dortigen Sozialdemokraten besetzten, ähnlich wie in Hallein, einen Großteil der Sitzplätze in den Stadtsälen. Hitler begann auch hier seine Rede mit der Verdammung der "Schandverträge" von Versailles. Dann kam er zu jenem Abschnitt seiner Ansprache, in dem es um die Abgrenzung von den "internationalen" Arbeiterparteien ging. Es rumorte im Saal, und der Lärmpegel wurde immer lauter, sodass Hitler nicht mehr zu verstehen war. Heinrich Schneidmadl, sozialdemokratischer Nationalratsabgeordneter, stand auf und erwiderte, dass Österreich von den Nachkriegsverträgen kaum weniger betroffen sei als Deutschland, aber dass am Weltkrieg der deutsche Nationalismus mitschuldig gewesen sei.

Die Situation eskalierte, sowohl Nationalsozialisten als auch Sozialdemokraten stürmten die Bühne, und eine wilde Rauferei begann. Schneidmadl nahm, nach eigener Aussage, Hitler zur Seite, um ihn vor der Wut der eigenen Parteigenossen zu schützen. Er wollte vermeiden, den Gegnern einen "willkommenen Beweis sozialdemokratischer Unduldsamkeit" zu liefern. Hitler ergriff noch einmal das Wort und zog kurz darauf mit etwa 100 Parteigängern ab. Beide Seiten verbuchten den Sieg für sich. Bürgerliche Zeitungen waren auch hier von Hitler begeistert. Im "St. Pöltner Tagblatt" hieß es: "Wir gestehen offen, dass Herrn Hitlers Darlegungen einen strahlenden Licht- und Höhepunkt in dem sonstigen Wahlredengequatsche bedeuten."

Plakat zur Veranstaltung in St. Pölten.
Foto: gemeinfrei

Zwei Tage später war Hitler erstmals seit 1913 wieder in Wien. Er sprach am 8. Oktober im Etablissement Gschwandtner in Hernals und am 9. Oktober im Gasthaus zum Marokkaner im Prater. Über die Auftritte in Wien ist wenig bekannt. Seinen eigenen Aussagen nach hatte er im Gschwandtner "mit großem Erfolg" gesprochen. "Jedenfalls gieng bisher alles gut", heißt es auf einer Postkarte, die Hitler von Wien nach Rosenheim schickte. Danach reiste er wieder in die Provinz, nach Gmünd (10. Oktober), Waidhofen an der Thaya (vermutlich 11. Oktober) und zum Abschluss nach Krems (13. Oktober, "großer Erfolg"). Eine in Groß-Siegharts geplante Veranstaltung musste aufgrund von Protesten lokaler Sozialdemokraten abgesagt werden.

Kein Wahlerfolg, aber Erfolg für Hitler

Die von Hitler auf dieser Wahlreise gehaltenen Reden lassen einen ideologischen Opportunisten erkennen. Er kombinierte linke und rechte Themen. Hitler konnte manchen Arbeiter davon überzeugen, dass die Sache mit der internationalen Solidarität doch nur "Kohl" sei. Gleichzeitig begeisterte er Teile eines verängstigten Bürgertums, weil er den Kampf mit den verhassten "Roten" aufgenommen hatte. Mit Kalkül spielte Hitler in bürgerlich dominierten Städten die nationale Karte aus, während er sich in industriell geprägten Orten als Revolutionär präsentierte. Mit seinen Anschlussparolen konnte er da wie dort punkten. Und mit seinem fanatischen Antisemitismus holte er sich zusätzlich den Zuspruch von Christlichsozialen.

Verwirrend wirkt seine Rhetorik gelegentlich dadurch, dass er über dieselbe politische Bewegung einmal wütend schimpfen und sie ein andermal großartig finden kann. So zieht er vor Deutschnationalen über die Sozialdemokraten her, die er an anderer Stelle durchaus bewundert. Nach den Erinnerungen von Schneidmadl soll Hitler versichert haben, dass er – hätte ihn die "Vorsehung" nicht nach Deutschland verschlagen – der österreichischen Sozialdemokratie beigetreten wäre. Mehr als die Sozialdemokraten verachtete Hitler in der Tat die alten deutschnationalen Honoratiorenparteien, die seiner Ansicht nach 40 Jahre lang nichts zuwege gebracht hatten. Und doch waren sie es, die nun in Hitler ihren Retter entdeckt zu haben meinten, einen Lenin der Rechten, der es den Linken zeigen würde.

Die Wahlen am 17. Oktober 1920 gingen trotz Hitlers Unterstützung für die österreichischen Nationalsozialisten nicht gut aus. Ein Bündnis mit den Großdeutschen war nicht zustande gekommen, und sie selbst erreichten kein einziges Mandat. Für Hitler hatte der Wahlkampf trotzdem bestärkende Nachwirkungen: Wo immer er aufgetreten war, erhöhte sich die Stimmenzahl der NSDAP deutlich. In St. Pölten hat sie sich verdoppelt. In den Wahlbezirken des Waldviertels fehlten nicht viele Stimmen auf ein Grundmandat. Damit konnte Hitler nach seiner Rückkehr nach München punkten. Er hatte sich selbst und seiner Partei bewiesen, dass er auch außerhalb Bayerns Erfolge als aufpeitschender Redner erzielen kann. Diese Erfahrung festigte seine Position in der NSDAP, der er erst ein Jahr zuvor beigetreten war.

Hitlers Auftritt im Zirkus Krone in München im April 1923. So in etwa kann man sich die Atmosphäre bei den Reden in Österreich vorstellen.
Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1972-001-07 / CC-BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.de)

Ehemalige Gegner nun für den "Anschluss"

18 Jahre später, im Frühjahr 1938, kam Hitler neuerlich nach Österreich und besuchte einige der Auftrittsorte von damals wie Braunau und St. Pölten. Diesmal gab es keine Gegenredner mehr, vielmehr war er als umjubelter Triumphator gekommen, den "Anschluss" Österreichs an das Dritte Reich zu vollziehen. Hinter den Kulissen attackierten Nationalsozialisten politische Gegner, verwüsteten jüdische Geschäfte, verprügelten Jüdinnen und Juden in deren Wohnungen, rissen sich ihren Besitz unter den Nagel, demütigten sie durch "Reibpartien". Hitlers Absicht, die er bereits 1920 verkündet hatte, die "Judenfrage bis zur letzten Konsequenz mit der bekannten deutschen Gründlichkeit zu lösen", war drastisch sichtbar geworden.

Und die Gegner von 1920? Nicht wenige von ihnen verhielten sich wie Schneidmadl. 1920 war er überzeugt davon, den "nationalsozialistischen Eroberungszug" durch seine Gegenaktion in St. Pölten verhindert zu haben. In den frühen 1930er-Jahren drohten ihm Nazis im niederösterreichischen Landtag, dass sie "Leute wie ihn eines Tages hängen" würden. Und im April 1938 begrüßte Schneidmadl auf einmal den Anschluss "als Erfüllung geschichtlicher Notwendigkeit". Über die "Donaupost" ließ er ausrichten: "Ich stimme am 10. April mit 'Ja'. Und ich bin sicher, dass auch meine Freunde und Gesinnungsgenossen es so halten werden." Ich frage mich bis heute nach den Motiven für diese schwer nachvollziehbare Kehrtwendung. Eine Frage, die mich persönlich beschäftigt. Heinrich Schneidmadl war mein Urgroßvater. (Christian Rapp, 22.10.2020)