"Ein Jahr nach Halle höre ich vor allem jüdische Stimmen, die darüber sprechen", sagt Bini Guttmann, der Präsident der Europäischen Union Jüdischer Studierender, im Gastkommentar. Es sei ein Problem, wenn nur Juden und Jüdinnen über Antisemitismus sprechen.

Blumen am Eingang der Synagoge von Halle zum Gedenken an den Anschlag.
Foto: APA / dpa / Hendrik Schmidt

Vor genau einem Jahr, am 9. Oktober 2019, hat ein Rechtsextremer in Halle Jagd auf Juden und Jüdinnen gemacht. Nachdem er es nicht schaffte, in die Synagoge einzudringen und die rund 80 Betenden am höchsten jüdischen Feiertag zu ermorden, zog er weiter und ermordete zwei Menschen: Jana und Kevin. Diese Woche wollte ein uniformierter Mann dem Attentäter von Halle nacheifern, und griff zu Sukkot einen jüdischen Studierenden vor der Synagoge in Hamburg an. In ganz Europa gab es sechs verschiedene antisemitische Attacken in der letzten Woche.

Was in Halle geschah, war genau das Szenario, vor dem man uns seitdem wir kleine Kinder waren, gewarnt hat. Es ist das Szenario, vor dem wir seit Jahren warnen. Wir sind es gewöhnt, vor jüdischen Veranstaltungen von bewaffneten Sicherheitskräften befragt zu werden. Die Europäische Union Jüdischer Studenten (EUJS) veröffentlicht ihre Büroadresse nicht. Meine jüdische Schule sah aus wie ein Gefängnis – in dieser Schule haben wir neben Feueralarm auch Terroralarm geübt.

Absolute Normalität

Bei meiner ersten Reise mit EUJS waren wir zunächst in Brüssel, wo die Synagoge von Maschinengewehr tragenden Soldatinnen und Soldaten geschützt wird und dann in Washington DC, wo ich erstmals in einer Synagoge war, deren Tür offen war, die keinen Schutz hatte. Unwohler fühlte ich mich in den USA. Denn für mich – wie für die meisten Juden und Jüdinnen in Europa – ist die ständige Präsenz von Sicherheitsmaßnahmen, das Gefühl, dass etwas passieren könnte, die absolute Normalität. Vorbereitet, wenn es passiert, ist man dennoch nie.

In Halle gab es jedoch nicht mal diese Sicherheitsmaßnahmen. Einer der größten Anschläge auf Juden und Jüdinnen seit Ende des Zweiten Weltkrieges wurde verhindert durch einen ehrenamtlichen Sicherheitsmann, eine stabile Holztür und die Unfähigkeit des Attentäters.

Die Polizei in Halle fand es nicht notwendig, die Synagoge zu schützen, wusste nicht, was Yom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, ist, und warum an diesem Tag eine größere Gefahr herrscht. Es ist dieselbe Polizei die – in ganz Europa – immer wieder von rechtsextremen Netzwerken durchsetzt ist, die seit Jahren die Gefahr der extremen Rechten unterschätzt. Wir Juden und Jüdinnen können uns nicht vollständig darauf verlassen, dass der Staat unser Leben schützt. Das zeigt Halle. Im Europa des 21. Jahrhunderts müssen wir unsere Sicherheit auch selbst in die Hand nehmen.

Dreizack des Hasses

Aber das Problem liegt viel tiefer. Eine Überlebende des Anschlags, Sabrina, brachte es auf den Punkt als sie sagte: "Was in unserer Gesellschaft ließ den Attentäter glauben, dass er für seine Taten akzeptiert wird?" Es ist leider einiges. Es ist seine Ideologie. Dieser Dreizack des Hasses, bestehend aus Antisemitismus, Rassismus und Misogynie, der ihn mit den Terroristen in Christchurch, Hanau, Pittsburgh und Poway einte. Die zum Mord an Walter Lübcke, NSU 2.0 und Hannibal führte. Die antisemitische Ideologie des "großen Austauschs", die von den Identitären propagiert und von Parteien wie der AfD, der FPÖ und dem Front National in unsere Parlamente und teilweise sogar in unsere Regierungen getragen wird!

Es sind aber auch diejenigen, die mit Rechtsextremen zusammenarbeiten, ihren Diskurs normalisieren, mit ihnen demonstrieren und gleichzeitig vor Extremismus "auf allen Seiten" warnen.

Und es sind vor allem all jene, die unsere Warnungen seit Jahren ignoriert haben. Sie alle haben ein Klima geschaffen, das den Attentäter glauben ließ, die Gesellschaft werde seine Taten akzeptieren. Der Attentäter war kein "verwirrter Einzeltäter".

Antisemitismus und Rassismus

Der Anschlag in Halle war antisemitisch. Doch als der Terrorist nicht in die Synagoge eindringen konnte, zog er weiter zu einen Kebab-Restaurant, um Musliminnen und Muslime zu ermorden. Antisemitismus und Rassismus gehen Hand in Hand. Wer ein Land ohne Migrantinnen, Migranten und Geflüchtete haben möchte, will letztlich auch ein Land ohne Juden und Jüdinnen.

Handelt also, wenn wir sagen: Rassismus tötet. Antisemitismus tötet. Faschismus tötet.

Ein Jahr nach Halle, höre ich vor allem jüdische Stimmen, die darüber sprechen. Das ist ein Problem: In einer Gesellschaft, die jüdische Gemeinden nur wahrnimmt, wenn über die Shoah, Antisemitismus oder den Nahostkonflikt gesprochen wird, sind es wieder Juden und Jüdinnen, die über Antisemitismus sprechen. Ich würde viel lieber über die vielen jungen jüdischen Initiativen in ganz Europa, über die Ausstellung junger jüdischer Künstlerinnen, die ich vor kurzem sah, über das gerade stattfindende Sukkotfest oder über die EUJS-Kampagne gegen den Genozid an den Uighuren schreiben. Aber ich muss über Antisemitismus und Faschismus schreiben. Damit andere endlich handeln. Vor allem aber würde ich gerne über die Vision einer multikulturellen Gesellschaft schreiben, mit jüdischen und migrantischen Narrativen.

Zu Yom Kippur wünschen wir uns auch eine bessere Welt. Den Sieg von Licht über die Dunkelheit. Und genau muss unser Ziel sein: Eine Welt in der Diskriminierung konsequent bekämpft wird. Denn um langfristig Sicherheit für uns zu garantieren, reichen dickere Mauern und mehr Kameras nicht. Wir brauchen eine Gesellschaft in der Platz für alle ist, in der Türen dafür bekannt werden, dass sie offen sind und nicht dafür, Anschläge zu verhindern. Eine Gesellschaft die auf einem wirklichen antifaschistischen und antirassistischen Grundkonsens beruht. Nur das kann die Lehre aus Halle sein. (Bini Guttmann, 9.10.2020)