Im Gastkommentar vergleicht Hans Karl Peterlini, ein Südtiroler in Kärnten, die Situation in den beiden Ländern. Er sagt: Österreich muss auch seinen Minderheiten zur Schutzmacht werden.

"Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr", steht auf dieser historischen Ansichtskarte. Das Motiv: die Kärntner Volksabstimmung, die sich am Samstag zum 100. Mal jährt.
Foto: Horst Plankenauer

Gedenktage haben wohl immer eine Tücke. Sie ziehen in den Bann, selbst wenn man ihnen kritisch gegenübersteht, sie lassen ein flaues Gefühl zurück, wenn sie gar zu euphorisch gefeiert werden. Die Gedenktage der anderen erlauben mehr Distanz, zugleich sind sie emotional schwerer zugänglich: Wie soll ich als Südtiroler, der in Kärnten-Koroška lebt und arbeitet, diesen 10. Oktober je verstehen? Dass die deutschsprachige Mehrheit des Landes den Erhalt der Zugehörigkeit zu Österreich feiert, ist nachvollziehbar – letztlich ist Kärnten gewährt worden, was Südtirol verweigert wurde. Dass die slowenische Minderheit, einst Mehrheit in Südkärnten, einen solchen Gedenktag mitfeiert, ist aus Südtiroler Sicht dagegen fast unvorstellbar. Es wirkt so, als würde das deutsch- und ladinischsprachige Südtirol die Annexion 1919/1920 durch Italien feiern.

Vergleiche hinken, dies sei eingeräumt. Mit der Besetzung Südtirols 1918 ist die Teilung Tirols willkürlich vollzogen werden, das überwiegend deutschsprachige Gebiet und die ladinischen Dolomiten-Täler kamen zum neuen italienischen Nationalstaat, die Bevölkerung war mit einem Schlag all ihrer Koordinaten beraubt, ein Entfremdungsschock. Die slowenische Volksgruppe in Kärnten wahrte durch die Bejahung des neuen Österreichs einigermaßen ihre vertraute Bezugsgröße gegenüber einem fremden politischen System, ihr Anteil am – gern deutschnational erinnerten – Abwehrkampf gegen die slowenisch-kroatisch-serbische Besetzung Südkärntens ist unbestritten. Umso verwunderlicher ist es aus Südtiroler Sicht, wie schlecht ihr dieser "Vaterlandsdienst" ausgerechnet von jenem Österreich gelohnt wurde, das sich so beherzt für das verlorene Südtirol eingesetzt hat.

"Land in Not"

Dieser Vergleich hinkt noch ärger: Noch in meiner Jugend war Südtirol das "Land in Not", für das im ganzen deutschen Sprachraum Geld gesammelt wurde. Aus Österreich kamen zusätzlich Sprengstoff und Personal für die Attentate der 1960er-Jahre, um Italien, wenn schon nicht das Selbstbestimmungsrecht, so doch wenigstens eine ordentliche Selbstverwaltung abzuringen, Bruno Kreisky brachte das Südtirol-Problem zweimal vor die Uno, in der Tiroler Landesregierung war Südtirol jahrzehntelang konsequent top eins, in Wien bildeten Rote, Schwarze, Blaue in der Südtirol-Frage eine Einheitsfront. Gemessen an anderen Minderheiten treten wir mittlerweile auf wie die reichen Onkel aus Amerika. Wir haben Kindergärten, Schulen, Kulturhäuser, die den Reichtum des Landes tatsächlich auch in Bildungsinstitutionen abbilden, wir haben eine Selbstverwaltung, die nahe an Freistaaten herankommt, wir haben einen Schutzstatus, der die Verhältnisse umgedreht hat: Aus der bedrohten Minderheit ist im Autonomiegebiet eine (mitunter fast zu) selbstbewusste Mehrheit geworden.

Das Südtirol-Modell

Eine solche Entwicklung beruht auf konkreten Grundlagen: die Gleichstellung der deutschen Sprache in Verwaltung, bei Gericht und Polizei, ebenso des Ladinischen in Gherdëina und Badia; die Aufteilung von öffentlichen Stellen und sozialen Mitteln gemäß der Stärke der Sprachgruppen, durchgehende Zweisprachigkeitspflicht in allen öffentlichen Ämtern und eine Finanzautonomie, die alle anderen Regionen Italiens neidisch macht.

In denselben 100 Jahren ist die slowenische Volksgruppe in Kärnten von gut 30 Prozent auf zwei Prozent geschwunden.

Dieser Blick in den Spiegel kann Österreich nicht erspart werden. Auf Kärnten umgelegt, würde das Südtirol-Modell bedeuten: dass die Frage, ob die Leitung zweisprachiger Schulen auch Slowenisch können muss, gar keine Frage, sondern Selbstverständlichkeit wäre; dass einige Stunden wöchentlich Slowenisch in allen Kärntner Schulen von der Volksschule bis zur Matura verpflichtend wären, sodass niemand mehr um die Bereicherung durch Grundkenntnisse der zweiten Landessprache gebracht würde; dass in der Folge auf Veranstaltungen alle in ihrer Sprache reden könnten, weil es zumindest passive gegenseitige Sprachkenntnisse gäbe; dass die Slawistik in Klagenfurt nicht um Studierende und damit um ihre Existenz bangen muss, weil es wieder mehr Lehramtsstellen für Slowenisch brauchte.

Verweigerte Loyalität

Ein wunderbarer Kärntner Chor hat Rainhard Fendrichs I am from Austria ins Slowenische übertragen, ein gesungenes Bekenntnis der Volksgruppe zu ihrem Heimatland. In Südtirol würde Toto Cotugnos Sono un italiano, un italiano vero vielen nicht so leicht über die Lippen gehen. Wenn am Brenner "Südtirol ist nicht Italien" steht, wird das von vielen zwar längst nicht mehr so gelebt, aber es ist geltende politische Strategie.

Ein Verdacht drängt sich auf: Erreichen Minderheiten – abgesehen von unterschiedlichen historischen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen – möglicherweise mehr, wenn sie nicht loyal sind? Südtirol hat Italien die volle Loyalität bis in die Gegenwart verweigert, und es hat gerade dadurch viel erreicht. Es konnte durch diese Abgrenzung vom "fremden Staat" die Schutzmacht Österreich legitimieren und mobilisieren.

Schwächere schützen

Minderheitenschutz ist nicht Deutschtumskampf. Er gilt nicht den Stärkeren, wie es für nationalistische Politik typisch ist, er gilt den Schwächeren. Dieser Verwechslung sind auch einige Südtiroler Politiker erlegen, als sie in den 1980er-Jahren glaubten, sich für das Deutschtum in Kärnten einsetzen zu müssen, während der slowenischen Volksgruppe gerade Ortstafeln und andere Diskriminierungen um die Ohren flogen. Das hat sich zum Glück geändert. So möge auch Österreich die Halbherzigkeit eines Stiefvaterlandes ablegen und seinen Minderheiten ebenso zur Schutzmacht werden, wie es dies für Südtirol erfolgreich war und ist. (Hans Karl Peterlini, 9.10.2020)