Unter der ÖVP-FPÖ-Koalitionbegann das Gerangel um die Statistik Austria. Die Statistik ist per Gesetz selbstständig, doch das Kanzleramt forcierte einen Umbau in Teilen der Organisation. Der neue Chefstatistiker Tobias Thomas sollte für Ruhe sorgen. An seinem ersten Arbeitstag im Juni kam plötzlich die Meldung auf, dass die Statistik seit Monaten alle Pressemitteilungen über eigene Erhebungen vorab ans Kanzleramt übermittelt.

STANDARD: Ihre erste Amtshandlung war, die Übersendung der Mitteilungen ans Kanzleramt rechtlich prüfen zu lassen. Ist das abgeschlossen?

Thomas: Mir ist die Unabhängigkeit der Statistik Austria sehr wichtig, ebenso, dass wir uns strikt im rechtlich vorgegeben Rahmen bewegen. Darum habe ich die Übermittlung der Pressemitteilungen ausgesetzt und die Überprüfung durch einen hochrangigen Verfassungsjuristen in die Wege geleitet. Diese ist noch nicht abgeschlossen. Wir werden die Ergebnisse veröffentlichen und uns selbstverständlich an sie halten.

STANDARD: Unabhängig von der rechtlichen Beurteilung: 20 Jahre wurden keine Meldungen vorab ans Kanzleramt übermittelt. Warum das nicht beenden? Ist es politisch schwer?

Thomas: Politisch fällt mir nichts schwer. Ich habe mich als unabhängiger Wissenschafter auf die Leitungsfunktion einer unabhängigen Institution beworben. In allen Gesprächen, die ich seit Amtsantritt geführt habe, ist niemand mit dem Ansinnen an mich herangetreten, dass man unsere Unabhängigkeit einschränken will. Was aus der juristischen Erörterung herauskommt, weiß ich noch nicht und will dem als Volkswirt nicht vorgreifen, ich bin schließlich kein Jurist.

Objektive Daten helfen im Kampf gegen Populismus, sagt der Chefstatistiker Tobias Thomas.
Foto: APA

STANDARD: Noch vor Ihrer Zeit wurde im Kanzleramt eine Reformgruppe eingesetzt, die in Interna der Statistik eingegriffen hat. Das widersprach der Unabhängigkeit völlig. Gibt es noch eine solche Reformgruppe?

Thomas: Solche Absprachen gibt es nicht, entschieden wird hier. Ich sehe es als meine Aufgabe, besser zu erklären, warum die Statistik Austria unabhängig sein muss, und zwar nicht nur weil es das Gesetz vorschreibt, sondern weil wir nur als unabhängige Institution in der Gesellschaft wirklich einen Nutzen entfalten können.

STANDARD: Erklären Sie das bitte.

Thomas: Wir sind diejenigen, die mit Zahlen, Daten und Fakten die Bürger informieren, ihnen ermöglichen, sich ein eigenes Bild zu machen, fernab von Populismus oder Fake-News. Das ist in der Demokratie etwas ganz Entscheidendes, dass diese Information eine unabhängige Quelle zur Verfügung stellt. Zweitens bieten wir die Basis für evidenzbasierte Politikgestaltung, stellen also den Ministerien alle wichtigen Zahlen zur Verfügung. Unsere dritte Aufgabe ist es, Grundlage für empirische Forschung zu liefern. Unsere Wirkung kann aber nur gut sein, wenn die Zahlen wissenschaftlich objektiv erhoben werden und wenn die Statistik unabhängig ist.

STANDARD: Was ist objektiv erhoben?

Thomas: Das eine ist, Daten auf Basis wissenschaftlicher Methoden zu gewinnen. Wir in Österreich haben die fünfthöchste Wirtschaftsleistung pro Kopf in Europa. Das ist allerhand. Trotz Corona stehen wir also vergleichsweise gut da. Wie diese Punkte zu bewerten sind, das steht der Statistik nicht zu. Im politischen Diskurs müssen sich die Bürgerinnen und Bürger ein Bild machen und sagen, ja, das reicht uns, oder, wir müssen mehr anstreben. Diese Bewertung kann nicht objektiv sein, die Erhebung schon.

STANDARD: Ich würde das bestreiten. Ein Beispiel: Es gibt Debatten darüber, dass Deutsch angeblich auf dem Rückzug ist. Über 50 Prozent der Schüler in Wien haben nicht Deutsch als Umgangssprache, wie die Statistik Austria ausweist. Das beruht bloß auf einer allgemeinen Abfrage an den Schulen bei der Einschreibung.

Thomas: Für diese Erhebung ist die Grundlage das Bildungsdokumentationsgesetz, und man könnte unterschiedliche Variablen abfragen. Tatsächlich ist es so, dass das Gesetz eine einheitliche Erhebung vorsieht, was aber an den Schulen uneinheitlich gehandhabt wird. Deshalb sind die Interpretationen dieser Daten mit Vorsicht zu genießen. Es wäre wünschenswert, wenn wir durch die Anpassung im Gesetz zu einer einheitlichen und auch umfänglicheren Erhebung kämen. Eine bessere Datenbasis wäre wünschenswert, da haben Sie recht.

STANDARD: Ein Schüler mit Migrationshintergrund spricht mit den Eltern die Muttersprache, mit Freunden und Geschwistern Deutsch. Welche ist da die eine Umgangssprache? Schon die Erhebung ist doch nicht objektiv.

Thomas: Die Begriffe sind schon definiert, nur werden sie unterschiedlich abgefragt. Die Eltern nehmen die Einstufung bei der Schuleinschreibung vor. Daher gehört genau festgelegt, ob nur die Muttersprache erhoben wird oder eine Umgangssprache oder doch mehrere. Das kann ich nur unterstützen.

STANDARD: Welche Fakten erhoben werden, bestimmt die Geschichte. Die Statistik präsentiert Fakten der Migration. Vieles ist problemzentriert. Dass Österreich durch Einwanderung keinen Arbeitskräftemangel haben wird, diese Aussage findet sich nicht prominent im Report.

Thomas: Wir überlegen uns nicht das, was wir erheben wollen. Wir erheben das, wozu wir über EU-Verordnungen oder von den Bundesministerien beauftragt werden oder was gesetzlich vorgegeben ist. Tatsächlich stellen wir die Dinge wertfrei in unseren Publikationen dar, weisen hin, wenn es zu Fehleinschätzungen kommen könnte.

STANDARD: Sie sind Volkswirt. Für Sie ist es relevant, über Daten zu Wachstum und Produktivität zu sprechen. Ein anderer will aber lieber über Verteilung und Armut diskutieren.

Was ist die Umgangssprache bei mehrsprachigen Kindern?
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Thomas: Es muss ein Mix sein. Gerade deshalb ist es mir wichtig, dass wir nicht nur auf bestimmte Punkte fokussieren. Ich gebe ein Beispiel aus der Pflege: Um den Pflegebedarf einschätzen zu können, braucht es unsere Bevölkerungsprognosen. Ohne sie können wir nicht wissen, wie viele Menschen potenziell in 15 Jahren Pflegefälle sein werden. Das reicht aber nicht. Was dringend zusätzlich nötig ist, wäre eine Zeitverwendungserhebung. Ein großer Teil der Pflege ist im informellen Bereich abgedeckt, innerhalb der Familie, besonders durch Frauen. Deshalb muss man wissen, wie die aktuelle Zeitverwendung ist und wie Beruf, Familie und Pflege vereinbar sind. Ich halte es für eine zentrale Größe für viele Politikfelder. Im Regierungsprogramm steht das auch. Ich hoffe, dass sie bald beauftragt wird. Bisher ist das nicht der Fall.

STANDARD: Es gibt immer wieder Kritik aus der Wissenschaft, dass der Zugang zu Daten der Statistik mangelhaft ist.

Thomas: Die intensivere Zusammenarbeit mit der Wissenschaft ist mir ein Anliegen. Die Wissenschaft fordert einen verbesserten Zugang zu Mikrodaten. Das Regierungsprogramm sieht die Einrichtung eines Austria Micro Data Centers vor. Um das realisieren zu können, muss das Bundesstatistikgesetz novelliert und die Finanzierung gesichert werden. Die Novellierung ist in Vorbereitung. Ich hoffe, dass wir im Jahr 2021 mit der Umsetzung beginnen können. Aussehen könnte das so, dass Forschungseinrichtungen, nach einer Prüfung ihres Anliegens, einen Remote-Zugang zu verknüpften Mikrodaten erhalten würden.

STANDARD: Wie weit würde das gehen? Soll das auch Registerdaten erfassen? Oder ein anderes Beispiel: Es gibt große statistische Erhebungen bei Unternehmen, große Betriebe müssen über 200 unterschiedliche Bilanzpositionen bei der Statistik einmelden. Würde das auch miteinbezogen werden?

Thomas: Das wird das Gesetz zeigen. Wenn man so ein Mikrodaten-Center schafft, könnte man sich vorstellen, dass dort auch Registerdaten einbezogen werden, und das Ganze könnte sogar mit anderen Datenquellen verknüpft werden. Aber wichtig ist, dass man aus der Verknüpfung der Daten trotz Pseudonymisierung nicht auf die einzelne statistische Einheit zurückverfolgen kann, das ergibt sich aus den EU-Vorgaben. Ein solches Center könnte für den Wissenschaftsstandort Österreich einen erheblichen Schub bringen. (András Szigetvari, 9.10.2020)