Jeder Bezirk hat sein Grätzl, jedes Grätzl seine Hauptstraße. Im vierten Bezirk ist das die Schleifmühlgasse, hier beim letztjährigen Gassenfest.

Foto: Nana Siebert

Meine Heimat ist Wien. Das Grätzl ist mein Dorf, meine Straße der Dorfplatz. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Lokalen sind vielleicht beabsichtigt, aber offiziell natürlich zufällig. Alle Zitate hingegen sind wirklich so gefallen. Ein Dramolett in drei Akten.

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1. Akt

Früher Morgen.

Die Gasse, irgendwo in einem Wiener Gründerzeitbezirk. Es ist still zwischen den Altbauten, kein Mensch ist zu sehen, nur hin und wieder hört man in der Ferne ein Auto vorbeifahren.

Plötzlich wird eine Frauenstimme laut. Die Stimme schreit Unverständliches, es klingt nach Unbill. Zwei gegenüberliegende Doppelflügelfenster werden geöffnet. Zwei Köpfe erscheinen, die Gesichter wirken alarmiert. Die Frauenstimme wird verständlicher. Es handelt sich offenbar doch um keinen Überfall.

Frauenstimme, sehr laut: "Du g’schissenes Oaschloch, du kannst mi amoi, aba kreizweis! Hupf doch in Anasiebzga, du Voiversager, wenn’s da net passt bei mir, duat host wenichstns a Ruah! Geh in Oasch, und dei Gspusi nimmst glei mit, duat is’ eh scho daham, bei dir im Oasch!!!"

Die beiden Köpfe an den Fenstern werden einander gewahr und lächeln sich erleichtert an.

Nachbarin 1 (Lippenbewegung): "Das wird wieder."

Nachbarin 2 (Lippenbewegung): "Wie immer … i waaß eh."

Die Köpfe ziehen sich zurück, die Fenster werden wieder geschlossen.

Unten auf dem Gehsteig erscheint von links der "Geist": große, hagere Gestalt, langes, graues, unfrisiertes Haar, saubere, aber schäbige Kleidung, Gesundheitsschlapfen, leerer Blick. Der Geist geht sehr, sehr langsam durchs Bild.

* * *

2. Akt

Mittag.

Eine schwere Kawasaki biegt mit Karacho in die Gasse, bremst sich ein und parkt direkt neben dem Gastgarten des Satyricon, eines Lokals mit gehobener Wiener Küche. Eine in schwarzes Leder gekleidete Gestalt steigt ab: Michèl, die Wirtin des Lokals. Sie nimmt den Helm ab und schüttelt mit geübter Kopfbewegung ihre Haare aus.

Von der anderen Straßenseite nähert sich Milena, Wirtin des gegenüberliegenden Lokals Espresso Ganghofer.

Milena: "Wie geht’s dir? Hast schon gehört, die Dureks wollen sich scheiden lassen!"

Michèl: "Ma echt? Arg, das hätt ich mir nicht dacht. Obwohl, der Durek Erwin war eh vor ein paar Tagen bei mir mit so einer Oidn, die ich noch nie g’sehen hab. Und an Schampus hat er ihr auch bestellt!"

Milena: "So a blonde, g’spritzte? Ja, des is seine Neue. Ein Wahnsinn eigentlich, dass er die ausgerechnet zu dir zaht."

Michèl: "Jo so sinds halt, die Herren der Schöpfung. Ollawei an Schmäh, ollawei a Ausred, ollawei an Durst."

Ein deutsches Touristenpaar hat sich im Gastgarten niedergelassen. Der männliche Teil des Paars versucht verzweifelt, mit Michèl, der Wirtin, mittlerweile in Berufskleidung, pantomimisch Kontakt aufzunehmen. Endlich wendet Michèl sich den beiden gnädig zu.

Michèl: "Guten Tag, möchten Sie die Karte sehen?"

Deutscher Tourist: "Haben Sie einen Palaaatschinken?"

Michèl: "Bitte was?"

Deutscher Tourist: "Einen Palaaaaatschinken?"

Michèl: "Nein, der ist aus. Schnitzel gibts, oder Gulasch."

Deutscher Tourist: "Na das is mal ’ne Ansage. Also zweimal von dem Schnitzel!"

Mittlerweile sitzt am Nebentisch ein Touristenpaar aus Oberösterreich. Die Frau betrachtet mit Widerwillen einen Kaffeefleck, offenbar vom Hotelfrühstück, auf ihrem pastellfarbenen T-Shirt.

Oberösterreicherin: "Ma he, i schau voi aus wia a Sau!"

Oberösterreicher: "Und aupozt host di a."

Deutscher Tourist: "Hach, das ist dieser Wiener Scharm!"

Der Geist erscheint von links, und geht sehr langsam vorbei.

* * *

3. Akt

Abend.

Ein Radfahrer bleibt auf der Fahrbahn neben dem Satyricon stehen, um sich mit einem Bekannten im Gastgarten zu unterhalten. Ein dahinter in die Gasse einfahrender Autofahrer im BMW-SUV bezweifelt die Angemessenheit der verbleibenden Fahrbahnbreite und hupt mehrmals.

Radfahrer: "I foa e weida."

BMW-Fahrer (dringlich): "Jo und wiaso tuastas dann net?"

Der Radfahrer schleicht sich. Der BMW-Fahrer fährt an, bleibt wenige Meter darauf stehen, öffnet das Beifahrerfenster und wendet sich an den Wirt des gegenüberliegenden Lokals, der Pizzeria Casanova.

BMW-Fahrer: "Wooos is, du Heisl?"

Casanova-Wirt: "Na was glaubst, du Klo?"

Beide grinsen einander glücklich an. Der BMW-Fahrer, seines Zeichens Milenas Bruder und Wirt des Espresso Ganghofer, parkt sich ein und tritt seinen Dienst an.

Späterer Abend.

Ein Tisch im Gastgarten des Espresso Ganghofer. Eine Runde von acht Menschen.

Künstler 1: "Weißt eh, ich hab bald eine Ausstellung in der Galerie Sowieso, hast schon g’hört?"

Künstler 2: "Echt? Duatn? Des tuast da an? Des san doch ollas Schmähtandler doat."

Künstler 1: "Na geh, so kannst du das aber nicht sagen."

Künstler 2: "Oiso i tat dort nie ausstön."

Die Prinzessin (schaut verzückt nach oben): "Hach, ich lieeeebe dieses Himmelblau so sehr! Die Blaue Stunde, so heißt sie ja nicht von ungefähr …" (zum Wirt): "Kann ich noch einen Spritzer bitte?"

Der Prinz: "Oide, welchen von den Sätzen hast in deim Leben eigentlich schon öfter gsagt …? Und mir bitte a no a Krügerl."

Der ÖBB-Angestellte: "Ma jo, i brauch a nu a Bier, i hob heit so vü ghacklt, i kenn mi nimmer aus."

Die Freiberuflerin: "Du sei froh, dasst a Hackn hast. Ich tät das sehr gern wieder mal so sagen."

Die Berufsschullehrerin: "Frog amoi mi, I hob a Hackn, oba a ka Göd ..."

Der Pümpfüneberer: "Ihr tuats ma echt so laad, i hab imma Oaweid und a Fixgehalt, egal wos is. Sterm tan de Leid ollaweu."

Die Runde (singt gemeinsam): "Es lebe der Zentralfriedhof ...!!!"

Der Geist erscheint von links, und geht sehr langsam vorbei.

Der Pompfüneberer: "Gehts, hoits doch amoi olle de Pappm."

* * *

(Gini Brenner, 10.10.2020)