Birgit Roth ist Architektin und wissenschaftliche Leiterin des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst in Frankfurt am Main. Sie spricht sich für dichte Bauformen aus, auch in der aktuellen Krise.
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Oft werde leider darauf vergessen, großzügige Parks anzulegen. Dabei brauche es gerade bei dichter Bebauung diese freien Flächen, sagt Roth.
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Birgit Roth ist Architektin und wissenschaftliche Leiterin des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst. Sie beschäftigt sich mit der Erforschung sozial und funktional vielfältiger Stadtquartiere.

STANDARD: Wie baut man einen zukunftsweisenden Stadtteil?

Roth: So ein Stadtteil muss soziale Vielfalt bieten, bezahlbaren Wohnraum, eine gute Aufenthaltsqualität und Lebensraum für alle. Außerdem muss er funktional gemischt sein – also es muss Wohnen und Arbeiten geben, aber auch Schulen, Kindergärten, Gastronomie, medizinische Einrichtungen, Kultur und urbane Produktion. So entstehen kurze Wege, die es erlauben, auf das Auto zu verzichten. Und wie man ihn baut? Hier können wir aus der Geschichte viel lernen, etwa von den Gründerzeitvierteln.

STANDARD: Was zum Beispiel?

Roth: Die klare Trennung von öffentlichen und privaten Räumen. Erstere müssen für alle da sein, für Begegnung und Austausch, möglicherweise auch Reibung. In den privaten Räumen muss man sich zurückziehen können. Die Menschen wollen immer beides: Teilhabe an der Stadt, am urbanen Leben, sich aber auch zurückziehen können, auf dem Balkon sitzen und Ruhe genießen. Der deutsche Autor Kurt Tucholsky hat schon gesagt: "vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße". Diesen Dualismus muss die Stadt schaffen.

STANDARD: Und wie gelingt das?

Roth: Mit kompakten Bauformen, urbaner Dichte und Kleinteiligkeit. Eine Typologie, die heute völlig vergessen scheint, ist das städtische Hofhaus. Es ermöglicht soziale Vielfalt und bringt verschiedene Gruppen auf einer Parzelle zusammen. Es könnte so aussehen: Im Erdgeschoß ist ein Geschäft oder Gastronomie, im Hof gibt es einen kleinen Gewerbebetrieb, darüber sind Wohnungen und eine Arztpraxis untergebracht. Das ergibt eine unglaubliche Vielfalt, die man mit anderen Bauformen nicht erreichen kann.

STANDARD: Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie steht dichtes Wohnen auf dem Prüfstand. Halten Sie es dennoch für etwas Gutes, wenn Menschen auf engstem Raum zusammenleben?

Roth: Ja. In kompakten Stadtstrukturen gibt es kurze Wege, zum Bäcker, zum Arzt oder in den Supermarkt. Wo mehr Menschen leben, ist auch das wirtschaftliche Überleben von Betrieben eher gesichert. In den Einfamilienhausgebieten am Stadtrand, die in den 1970ern gebaut wurden, wird sich kein Bäcker halten. Dort sind die Kinder aus dem Haus, Überalterung oft das Problem. Im Zentrum hingegen, das hat auch die Pandemie gezeigt, gibt es mehr nachbarschaftliche Hilfe zwischen den Generationen. Und noch einen Vorteil gibt es, den vor allem Frauen nachvollziehen können: In dichten Strukturen gibt es weniger Kriminalität, weil eine soziale Kontrolle da ist. Eine belebte Straße ist immer eine sichere Straße – es wird immer jemand hingucken.

STANDARD: Was sind die drängendsten Probleme der Stadt, und wie kann gute Planung sie lösen?

Roth: Zunächst wäre das sicher die Hitze, die Jahr für Jahr zunimmt. In der kompakten Stadt helfen hier Alleen als Luftschneisen, viele Bäume, enge Straßen, die Schatten erzeugen, und das Vermeiden von Tiefgaragen, weil sie den Böden die Versickerungsfähigkeit nehmen. In der Planung von Quartieren können etwa Luftbewegungen genau untersucht werden und wie Winde durch die Stadt streichen.

STANDARD: Welche Rolle hat das Auto in der Stadt?

Roth: Wir wissen, dass 30 Prozent des Verkehrs auf die Parkplatzsuche entfällt. In Zukunft muss es weniger Autoverkehr geben. Ich würde mir aber dennoch wünschen, dass alle Verkehrsarten miteinander in einem guten Verhältnis auskommen – das Auto kann nicht ganz verboten werden, aber in Städten braucht es definitiv weniger davon. Seit Beginn der Corona-Pandemie beobachten wir eine gute Entwicklung – und zwar eine unglaubliche Zunahme des Fahrradverkehrs.

STANDARD: Welche Fehler werden immer noch gemacht?

Roth: Man hat verstanden, dass dicht bauen wichtig ist. Leider wird dabei oft auf die Bildung von Stadtraum vergessen. Immer noch gibt es Viertel, in denen die Einzelgebäude mit Mindestabständen verteilt werden. Wir müssen daran denken, dass die gebaute Form den öffentlichen Raum bildet – sich beides gegenseitig bedingt. Gebäude müssen Ensembles bilden. Oft wird leider vergessen, großzügige Parks anzulegen. Dabei braucht es gerade bei dichten Bauformen immer wieder freie Bereiche, die man nutzen kann. Viel zu oft gibt es noch monofunktionale Viertel und eine funktionsgetrennte Stadt. Dann ist Wohnen in der Innenstadt etwa nur in der Ausnahme zulässig, oder die Diskonter stehen am Rand. Es kann nicht sein, dass heute noch reine Wohngebiete errichtet werden.

STANDARD: Wird Investoren zu viel Spielraum gegeben?

Roth: Ja, manchmal lösen Investoren Fehlentwicklungen aus. Aber wir brauchen auch jemanden, der bereit ist, Geld in die Hand zu nehmen, die öffentliche Hand kann das oft nicht selbst tun. Das Ziel muss eine partnerschaftliche Entwicklung sein, und hier gibt es Voraussetzungen, an denen man arbeiten kann, um über die Baugesetze und Bauordnungen gute Regeln für die Zusammenarbeit zu finden. (Bernadette Redl, 10.10.2020)