Simmeringer Lände, Lukas Beck "Wien pur"

Foto: Lukas Beck "Wien pur"

Für den Elften muss man sich anscheinend rechtfertigen. Alles, was eine Großstadt dringend braucht, befindet sich dort; nichts aber, wovon man innerhalb der schönen Innenbezirke wissen will: Heizwerk, Müllverbrennung, Gärtnereien, Zentralfriedhof, Werkstätten. Das mentale Vorstellungsbild dieses Bezirks ist in der Gesamtansicht des glanzvollen und fortschrittlichen Wiens reichlich unterbelichtet.

Dazu kommt die Fama von integrationsunwilligen Migranten, verbunden mit dem Schrecken vor rechtsgerichteten Proleten. Man muss wohl naiv, wienunerfahren oder schlecht bei Kasse sein, um sich dort niederzulassen, scheint es. Auf mich trifft all das zu, deshalb sprach für mich gegen Simmering als Wohnort nichts.

Zur Begrüßung finde ich vor der Türe Zucchini, grüne Bohnen und rote Rüben, Geschenk der Nachbarin, die ein Feld in der Nähe bestellt. Auf meinem Balkon zirpen Grillen, ein tropischer Vogel trillert irgendwo. Von der Gemeinschaftsterrasse aus überblicke ich die Peripherie.

Im türkischen Supermarkt kaufe ich Quitten, Auberginen und Rosinen zu guten Preisen. Am Enkplatz verabreden sich auftoupierte Damen in Glitzershirts zum Kaffee. Auf dem Weg zum Bahnhof Simmering wird die frühere Dorfstruktur deutlich, einstöckige Häuser und Remisen. Unter der Bahntrasse eine Brache, unbebautes Gebiet. Nehme ich die U-Bahn, sage ich mir, ich fahre nach Wien. Ohnehin ist mein innerer Stadtplan ein anderer, seit ich die Jahreskarte in der Tasche habe. Dimensionen schrumpfen.

Blick ins Weite

Während des Lockdowns hatte ich dann Gelegenheit, die Umgebung zu Fuß und per Rad zu erkunden, meine Reichweite auszutesten. Vorbei an der Bücherei, durch den Herderpark, vorbei am Hundekäfig, überquere ich an der Tankstelle eine mehrspurige Straße. Von hier aus geht es bergauf, links und rechts Lagerhallen, Werkstätten, aus den Fenstern eines heruntergekommenen Gebäudes mit der Aufschrift Serail klingt arabesker Pop, ein melancholisches Lied.

Plakatwände säumen den Weg, dann eine Bretterbude, die sich als Club ausgibt. Er trägt den sprechenden Namen Infinity. Hier fühlt sich die Stadt an wie Niemandsland. Ich könnte überall sein, steige eine Fußgängerbrücke hoch, deren Röhren im Wind sirren und die unter meinen Schritten ein wenig schwingt, quere eine selten befahrene Straße und bin im Grünen.

Blühende Sträucher, Vögel, Wiesen, ein Auf und Ab, die Löwygrube. Früher wurde hier Lehm abgetragen, um die nahen Ziegelwerke zu beliefern. Bergan wird mir warm, ich ziehe die Jacke aus. Oben angekommen, öffnet sich der Blick ins Weite. Der Atem beruhigt sich.

Peripheriegefühl

Die Großstadt ist hier nicht mehr spürbar, ich kann gehen, wohin ich will, links durch einen Wald in Richtung Böhmischer Prater. Ginge ich stets geradeaus, landete ich im Kurpark Oberlaa. Auf der anderen Seite unserer Wohnanlage stellt sich das Peripheriegefühl noch stärker ein; hier grüßen tatsächlich die rot-weißen Schlote der Müllverbrennungsanlage und kreuzen sich zwei mehrspurige Fahrbahnen, daneben die hochgelegte Trasse der Bahn.

Vorbei an Kleingärten könnte ich bis zum Pistauer wandern; das Gasthaus wird vor allem von Einheimischen besucht. Eine repräsentative Durchmischung gibt es nicht, dafür riesige Portionen österreichischer Speisen. Aber ich will ins Grüne, passiere also mit dem Rad das Heizwerk bis zur Eisenbahnbrücke. Der Weg darüber ist eng.

Zwei Fahrräder kommen kaum aneinander vorbei, und der eilige Jogger drängt sich dazwischen, verteilt Schweiß- und Speicheltröpfchen. Corona freut sich. Doch ist die Brücke überstanden, befinde ich mich gleich im Unteren Prater. Da ist das Lusthaus, zuvor die Bierinsel, die während des Lockdowns Speisen zum Abholen bereithielt.

44 Prozent Grünflächen

Fahre ich von zu Hause aus in südliche Richtung, erreiche ich bald riesige Felder. 44 Prozent des Bezirks bilden Grünflächen, von denen ein großer Teil landwirtschaftlich genutzt wird. Ich spreche einen jungen Mann an, weil ich Schloss Neugebäude nicht finde.

Seine Familie besitzt hier eine große Gärtnerei. Frühjahr und Sommer wird von 4 Uhr früh bis abends spät durchgearbeitet, immer im Freien oder in der Hitze der Glashäuser. Er ist braungebrannt. "Das machen nicht mehr viele", meint er, "dafür haben wir den Winter über frei."

Es gibt aber immer weniger von diesen Betrieben. Viele finden keine Nachfolger und verkaufen ihre Gründe. In Zeiten des Baubooms ist dieses Land viel wert.

Dass die Blauen die Mehrheit im Bezirk stellen, beunruhigt mich dann schon. Nur um rund 400 Stimmen hat die Partei bei den letzten Wahlen gegen die Roten gesiegt. Ich beginne zu raten, welche der mir Entgegenkommenden wohl FP und welche SP wählten. Ohne Erfolg. Dann gerate ich in eine Veranstaltung auf dem Enkplatz. "Meinem Enkplatz", wie ich mir trotzig sage.

Es gibt Bier, junge Männer in blauen Jacken. Polizisten in voller Kampfmontur. Wer oder was wird hier geschützt? Oder sind sie bloß Deko? Kinder kommen gelaufen, stolz mit blauen Ballons. Der Anteil von Bewohnern mit Migrationshintergrund ist in Simmering mit 41 Prozent genauso hoch wie in Alsergrund, Mariahilf, sogar weniger als in Wieden und Landstraße. Woher diese Idee also kommt, dass es hier derart viele "Ausländer" gebe, bleibt unklar. Aber irgendwohin müssen die Ängste vor Überfremdung wohl projiziert werden.

Wie Villacher Fasching

Dann besser in einen Bezirk, in den ohnehin kaum einer kommt. Der Mann am Mikrofon mit Kärntner Akzent geht auf den Kanzler los. Jeder Satz endet mit einer Pointe, es ist wie Villacher Fasching. Die Leute im Publikum schreien zustimmend, klatschen nach je zwei Sätzen.

In der Straßenbahnlinie 11, die Simmering mit Favoriten verbindet, unterhalten sich Fahrgäste in allen möglichen Idiomen. Ich wünsche mir eine App, die mir, wenn ich eine Sprache höre, anzeigt, um welche es sich handelt, und stelle mir vor, wie sich das anfühlen muss, wenn man immer hier gelebt hat und ohne Fremderfahrung ist.

Ich hingegen habe oft in durchmischten Gegenden gewohnt und mich wiederholt an neue Situationen gewöhnt. Weil ich vielmals umgezogen bin, hatte ich nirgends mehr so richtig das Gefühl des Eingesessenseins. Wenn es unangenehm wurde, konnte ich mich auf vorangegangene oder zukünftige Orte beziehen. Wer das nicht kann, fühlt sich möglicherweise hilflos.

Das Fatale daran ist, dass darüber nicht miteinander geredet wird. Das verfestigt Feindbilder. Die Autochthonen fühlen sich qua Geburt höherwertig, aber ihre realen Lebensumstände geben das nicht her. Also setzen sie sich durch "Werte" ins Recht, die im Grunde bloß besagen, dass der schlimmste Einheimische immer noch dem bravsten Migranten vorzuziehen ist.

Zwischen den Welten

Diese fühlen sich oft nicht angenommen, egal wie sehr sie sich bemühen. Also halten sie sich an ihresgleichen bzw. halten die Verbindungen zu ihrer Herkunft aufrecht. Das ständig ans Ohr gedrückte Handy ist äußeres Zeichen für eine Existenz zwischen den Welten.

Dann braust der blaue Bezirksvorsteher tatsächlich eines Tages in einem dicken Auto vor meiner Nase vorbei. "Unser Paul macht das", lese ich in großen Lettern. Seine Telefonnummer hängt auf dem Plakat direkt vor der Kirche. Dieser zur Schau gestellten Freundlichkeit steht eine Propaganda-Broschüre entgegen, die ich eines Tages im Briefkasten finde: Unter dem Titel "Fremd in Wien" wird gegen Ausländer, NGOs, Frauen, "Autohasser" gehetzt. Dass der Retter aus dieser Not den Namen Nepp trägt, ist eine Ironie, die mich tagtäglich freut. "Gaunerei und Betrug" finde ich als Erklärung für diesen Ausdruck.

Das Plakat zur Wien-Wahl zeigt eine eher ländliche Idylle: Familie vor eigenem Haus mit Garten; der Kandidat verteilt Kuchen, die Teller aus Gmundner Porzellan. Ist das die Vision einer Großstadt im Jahr 2020 oder eben Nepp?

Vor den letzten Wahlen hatten die Blauen anscheinend versprochen, gegen Kebabstände an der Simmeringer Hauptstraße vorzugehen, welche hier Wohnende neben einheimischen Lokalen versorgen und nicht schlecht laufen.

Vergleich und Sehnsucht

Als mein Sohn aus Berlin zu Besuch kommt, will er kurz nach acht Uhr abends raus, um dort zu essen, und ist sofort wieder zurück. Alles schon geschlossen. "Das gibt’s in der Turmstraße nicht", meint er. Die Situation an der Simmeringer Hauptstraße erinnert ihn an diese Berliner Gegend, wo sich zu allen Zeiten Menschen verschiedener Herkunft tummeln, im Guten wie im Schlechten. Als ich hier einzog, freute ich mich, nach einer Woche noch keinen einzigen Hipster gesehen zu haben.

Die Welt, die mich umgeben hatte, war so ausgewählt und auf sich selbst bezogen gewesen. Dann fällt mir ein, dass auch Simmering im Osten der Stadt liegt, so wie Prenzlauer Berg, wo wir wohnten. Würde ich beide Stadtpläne übereinanderlegen, spiegelte dies das Durcheinander in meinem Kopf.

Nach mehr als 25 Jahren kehrt man nicht einfach zurück. Wien hat sich verändert und ich mich auch. Manchmal suche ich nach Straßen oder Läden und merke dann: "Ach, ich bin ja gar nicht in Berlin." Im Herumstreifen erlebe ich flüchtige Reminiszenzen, fühle mich wegen der Mischung aus Bauland, Industrie, Neubaubereichen sogar an ähnliche Szenerien in Japan erinnert.

Dort aber gab es nur wenig Grün oder kaum je einen freien Blick. Alles war eng. Noch befinde ich mich in der Phase des Vergleichs, samt Verlustgefühlen, wenn zum Beispiel die Verkäuferin in der Trafik, nicht weiß, was Süddeutsche Zeitung sein soll, als ich danach frage.

Statt Hipstern auf Elektroscootern fahren nun Kleinkinder in Spielzeugelektroautos vor meinem Fenster auf und ab, ihre Väter bei Fuß. Was bin ich also? Simmeringerin? Nein. Eher eine diesen Bezirk Erforschende. Blauäugig sicherlich.

Ich simmere vor mich hin und wünsche mir, dass unzufriedene Wiener ihre Bedenken manchmal mit Zuständen in anderen Metropolen vergleichen, um zu begreifen, wie gut sie es hier haben. Sogar im Elften. Und dass sie dementsprechend wählen. (Sabine Scholl, ALBUM, 10.10.2020)