Hannah brüllt. Reden kann sie noch nicht. Wilde Gestik tut es auch. Und die ist unmissverständlich: Was vor ihr auf dem Teller liegt, wird nie und nimmer den Weg in ihren Mund finden. Ob Nudeln, Fleischlaberl oder Püree, fürs Essen im Kindergarten hat die Zweijährige bestenfalls ein "Bäh" übrig. Da hilft kein sanftes Zureden, kein reger Appetit anderer Kinder. Sobald es Zeit fürs Mittagessen ist, sucht sie das Weite.

Die Ernährung der Kinder ist für Eltern ein Dauerthema. Ein Blick in die Kochtöpfe der Kindergärten offenbart Vielfalt – vorausgesetzt, die Kinder spielen mit.
Foto: Kinderfreunde

Ein Altersgenosse entschied für sich, mit Butterbrot satt zu werden. Und zwar nur mit Butterbrot. Sofort taten es ihm alle Kinder seiner Gruppe gleich. Einen ganzen Monat lang. Die Eltern waren empört, zahlten sie doch im Sinne gesunder Ernährung für vielfältige warme Menüs. Die Pädagogen behielten die Nerven. Bis der Spuk vorbei war. Ein Mädel wurde der Schmalkost überdrüssig, flugs schwor im gleichen Atemzug die ganze Rasselbande der monotonen Brotzeit wieder ab.

Die tägliche Mahlzeit für die Kleinsten ist ein Dauerbrenner. Vor allem wenn der Nachwuchs in die Obhut der Krippen und Kindergärten übergeben wird. Kaum ein Elternabend vergeht, in dem nicht hitzig über Speisepläne diskutiert wird. Sind Schokoflocken im Müsli und Fruchtsäfte absolut tabu? Werden Knirpse in der Wachstumsphase von Quinoa und Couscous satt? Er lasse sich von der Anti-Zucker-Fraktion kein Kipferl für seinen Sohn verbieten, tönt da ein Jungvater empört.

Verbotenes Würstel vom Nachbarteller

Andernorts will eine Mutter die alleinige Hoheit darüber, wann der Tochter paniertes Schnitzel und süße Marillenknödel vorgesetzt werden. Manchen strikt vegetarisch lebenden Eltern müssen Pädagogen schonend beibringen, dass ihr einjähriger Spross nichts lieber tut, als sich ein Radl Wurst vom Nachbarteller zu schnappen. Einem Fleischfreund muss erklärt werden, dass es nicht deshalb "so viel grünes Gmias" gibt, weil gespart werden soll.

Und Großeltern muss klar werden, dass es kein Wunder ist, wenn das Enkerl alles verschmäht, da sie ihm bei Abholen regelmäßig ein Kebab in die Hand drücken.

Essen ist längst nicht nur Grundbedürfnis, es ist Ausdruck eines Lebensstils und gewinnt in der Gesellschaft stetig an Gewicht. So vielfältig diese ist, so divers ist auch ihr Blick auf die Ernährung: Die Österreicher konsumieren traditionell große Mengen an Fleisch, zugleich boomt vegetarische und vegane Kost. Viele legen Wert auf Biologisches und wollen wissen, woher ihre Lebensmittel kommen. Für andere zählt aus finanziellen Gründen in erster Linie der Preis. Essen ist Emotion. Und wie unter einem Brennglas bündelt sich diese in den Horten der Kinderbetreuung.

Essen ist Emotion. Und wie unter einem Brennglas bündelt sich diese in den Horten der Kinderbetreuung.
Foto: Imago

"100.000 Eltern haben 110.000 Wünsche, wie ihre Kinder ernährt werden sollen", sagt Daniela Cochlár und schließt sich selbst gleich einmal mit ein. Die Pädagogin ist als Abteilungsleiterin für 350 städtische Wiener Kindergärten und Horte verantwortlich und Mutter eines Buben. Jüngst hat sie eine Liste erstellt, was ihr Kleiner daheim isst. Viel ist es nicht.

Zum Kosten nicht zwingen

Als Baby genoss er alles querbeet durch den Garten, jetzt sind es nur noch Nudeln mit Parmesan und Fleischbällchen von Ikea. "Mehr nicht, außer ich steche Gemüse in Sternchenform aus." Ich bin Pädagogin und bekomme es beim eigenen Kind nicht g’scheit hin", sagt Cochlár halb seufzend, halb im Scherz.

Warum sie dennoch gelassen bleibt: Im Kindergarten isst er so ziemlich alles, was ihm kredenzt wird – statt mit den Fingern sogar manierlich mit Besteck. Gepflegte Tischgespräche führe er auch noch. "Da geht mir das Herz auf. Das macht Gemeinschaft."

Essen im Kindergarten erweitert persönliche Lebensbereiche, und es hat vor allem eine wichtige soziale Komponente, betont Cochlár, das dürfe bei all den kulinarischen individuellen Ansprüchen der Eltern nicht vergessen werden. Wichtige Regeln aus ihrer Sicht: Das Auge isst mit. Niemand darf zum Kosten gezwungen werden. Und keiner ist zu jung, um nicht zu Messer und Gabel greifen zur dürfen. Reden bei Tisch ist natürlich erlaubt.

Mit oder ohne Schwein

Vorgaben aus den Familien werden respektiert. Wer seinen Nachwuchs ohne Schweinefleisch oder vegetarisch aufziehen will, muss in der Betreuung außer Haus keine Abstriche machen. Grenzen sind dort, wo es die Gruppe belastet. Selbstgekochtes von daheim in öffentliche Kindergärten mitzugeben ist daher auch aus Hygienegründen nicht erlaubt, sagt Cochlár. Es sei denn, das Kind hat Allergien und leidet unter Unverträglichkeiten.

Einen ähnlichen Zugang hat Gudrun Kern, die 92 private "Kinder in Wien"-Kindergärten führt. Bei aller Rücksicht auf die Wünsche der Eltern müssten auch die Kleinen mit an Bord geholt werden. "Essen ist was Ganzheitliches. Es geht um Riechen, Schauen, Tasten, Selberkochen bis hin zum Pflanzen von Kräutern und Ausflug zum Erdäpfelbauern." Dass viele gern zu Süßem greifen, sei klar. Letztlich zähle wie überall der gesunde Mix.

Nichts für Romantiker

Essen ist Kultur, jeder bringt seine eigene Biografie mit, der man wertfrei entgegentreten muss, meint auch Alexandra Fischer, pädagogische Leiterin von 155 Kindergärten der Kinderfreunde. Experimente gehörten dazu, auch das Zerquetschen von Brokkoli mit den Fingern. "Man muss sich da von so manch romantischer Vorstellung verabschieden."

Die ungeschriebene Regel, es schmeckt etwas erst, wenn es mehrfach gekostet wurde, hält sie für Unsinn. "Graust es einen vor Weinbergschnecken, dann wird man sie auch nach siebenmal Probieren nicht mögen."

Wie viel Süßes darf sein? Manch Marillenknödel sorgt bei Elternabenden für hitzige Debatten.

Lust auf Neues machen kreative Namen. Bestseller am Kindertisch sind Suppen mit Nudeln in Tierform, zu Seesternchen gepresster Fisch und Pizza. Spinat polarisiert. Ravioli und Schwammerlsaucen bleiben meist stehen. Hühnerkeulen lassen ob der mühsamen Zerlegearbeit Betreuer ächzen. Meist gibt es einmal die Woche Süßes, zweimal die Woche Fleisch. Um es zu reduzieren, wird Faschiertes mit Bulgur gemischt. Ungeliebtes Gemüse landet zu Sauce passiert neben Nudeln. Linsenbällchen dienen als Fingerfood, aus Polenta werden Herzen – und Erbsen und Reis penibel von einander getrennt: In jungen Jahren isst man gern eins nach dem anderen.

Keine kleinen Erwachsenen

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie haben spezielle Bedürfnisse und sind eher konservative Esser, sagt Claudia Ertl-Huemer. Die Ernährungswissenschaftlerin ist Geschäftsfeldleiterin für Kindergarten- und Schulessen bei Gourmet und für die Speisepläne in 1350 Kindergärten verantwortlich. Gourmet, eine Tochter des Lebensmittelkonzerns Vivatis, ist Österreichs größter Anbieter für Kindermenüs. Gekocht wird in Oberlaa. Mild gewürzt, fettarm, ohne Geschmacksverstärker, Farbstoffe, Konservierungsmittel müssen die Menüs sein. Appetitlich anzusehen. Und leistbar.

2,90 bis 3,50 Euro kostet ein Mittagessen. Die Großküche hat sich zu einem regionalen Einkauf und Bioanteil von zumindest 50 Prozent verpflichtet. Mehr Bio ist realisierbar, jedoch teurer. Die Frage ist, wer für die Preisdifferenz zahlt: die öffentliche Hand oder die Eltern. "Es ist immer eine Gratwanderung zwischen Gesundheit und Akzeptanz", resümiert Ertl-Huemer.

Brokkoli im Idealzustand. In der Praxis wird er oft zwischen Kinderhänden zerquetscht.
Foto: Gourmet

Die natürliche Neugier der Kinder gibt mit Glück und Geschick Spielraum. Etliche Eltern setzen ihre Maßstäbe jedoch höher an. Bei einem steirischen Architekten brachte ein Bratwürstel mit Ketchup das Fass zum Überlaufen. 14 Monate war die Tochter alt, zu jung für Schokolade im Müsli, Striezel zur Jause, Burger und Frittiertes zu Mittag, wie er findet.

Geschmack durch Erziehung

Bio nennt er Augenauswischerei, wenn es nur für die Buchstabenudeln in der Suppe gelte. Gemüse sei für die Fisch’, wenn es zuvor in Fett und Panier rausgebacken wurde. Dass das Essen für viele Kindergärten vielfach nur einmal wöchentlich tiefgefroren angeliefert wird, machte es ihm nicht sympathischer.

"Geschmack ist auch Erziehung", meint er. Kindern in einem Beirat die Auswahl der Speisen zu überlassen hält er für riskant. "Wissen sie denn wirklich, was ihnen guttut?" Viele Jobs zwingen Eltern dazu, ihre Kinder immer früher und länger außer Haus versorgen zu lassen. Drei Mahlzeiten gibt es dort. Viel Zeit, ihnen die eigenen Essgewohnheiten näherzubringen, bleibt da nicht.

Wie viel Einfluss darf sein?

Zwei Jahre lang kochten seine Frau und er in der Früh täglich frisch fürs Kind. Fast alles war Bio, vieles vom Bauernhof aus der Region. Der Kampf, es in den Kindergarten mitgeben zu dürfen, führte die beiden über alle Instanzen. Gegessen habe es der Knirps immer gern, versichert er. Nur die Betreuer hatten darauf wegen des Mehraufwands wenig Appetit.

Sie fürchteten, dass wir damit Schule machen und andere mitziehen. "Aber wer tut es sich an, täglich fürs Kochen in aller Früh aufzustehen? Lustig war’s nicht." Das Essen im Kindergarten verbesserte sich erheblich, die Leitung kooperierte. Fürs zweite Kind, einen Wonneproppen, kocht er nicht mehr vorab zu Hause. "Ganz ehrlich? Dafür fehlen uns jetzt eh die Zeit und die Energie."

Auch für Petra Rust, Ernährungswissenschafterin an der Uni Wien, kann spielerische Ernährungserziehung nicht früh genug beginnen. "Wir erwarten von Erwachsenen, mündige Konsumenten zu sein. Das muss man jedoch erst einmal lernen." Die Verantwortung dafür obliege Familien wie Kindergärten. Die vegane Ernährung für die Jüngsten sieht sie wie viele andere Experten skeptisch. "Haben wir ein Recht darauf, Kindern gewisse Geschmackserlebnisse vorzuenthalten?"

Viele Köche für einen Brei

Wie viel Einfluss auf die Speisezettel in Kindergärten sollen Eltern nun also nehmen? In selbstverwalteten Einrichtungen haben sie das Kommando und schwingen folglich auch die Kochlöffel. Hat das nur Vorteile?

Thomas Ungers Söhne besuchten eine solche Kindergruppe. Alle zweieinhalb Wochen kochte der Lektor im Radl mit anderen Eltern für 14 Kinder auf, bereitete mit ihnen die Jause zu, ließ es sich gemeinsam mit ihnen schmecken. Es machte Spaß, seine Söhne waren stolz auf ihn, und die vielen Köche sorgten für Vielfalt: Kein Knödel war gleich. Einmal im Monat trafen sich die Eltern. Das Essen blieb jedoch das dominante Thema.

Streit um die Butter

Selbstverwaltung ziehe Familien mit speziellen Vorstellungen an. Die Liste verbotener Lebensmittel, auf der ganz weit oben Weißbrot stand, wurde laufend länger, erzählt Unger. Er berichtet von Endlosdebatten über Butter, von Müttern, die dem Nachwuchs Croissants entrissen, und Torten ohne Zucker, die selbst das Geburtstagskind nie anrührte.

Auf der Liste verbotener Lebensmittel bei manchen Eltern ganz oben: Weißbrot mit Butter.
Foto: Imago

Martina Moritsch ist Obfrau des Vereins Kinderhaus Hofmühlgasse. "Das Gute ist, dass es keine starre Regel gibt, die nicht hinterfragt wird. Jeder ist eingebunden", sagt sie. Der Haken sei, auf einen gemeinsamen Nenner kommen zu müssen. Moritsch sieht eine Generation von Frauen und Männern Eltern werden, die ein schwieriges Verhältnis zu Lebensmitteln haben, bis hin zu Essstörungen. Eigene Probleme würden auf Kinder übertragen, die offenbar auf alles allergisch reagierten.

Heikler Balanceakt

Welche Unverträglichkeit ist echt, welche eingebildet? Die Frage, wie stark darauf Rücksicht genommen wird, bleibt ein heikler Balanceakt. Als beruhigend erlebte Unger, dass sich vieles spätestens in der Volksschule auswächst. "Vielleicht werden wir Eltern einfach selbstbewusster und entspannter."

Der kleine Schreihals Hannah verweigerte das Essen im Kreise anderer Kinder im Übrigen ein paar Wochen. Schlüssel zur Suppe waren Backerbsen. Nun schlürft sie diese tellerweise, mümmelt Brot und knabbert Karotten. (Verena Kainrath, 12.10.2020)