Vizekanzler Werner Kogler schenkte der Wiener Vizebürgermeisterin beim Wahlkampfauftakt einen grünen Helm. Im persönlichen Gespräch agiert sie auf Augenhöhe – ob mit Bauarbeitern oder Uniprofessoren.

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Als die U-Bahn über die Donau fährt, liegt Wehmut in der Luft. Sie glitzert und ist wunderschön blau; an diesem sommerlichen Nachmittag Ende August. Birgit Hebein sitzt in der U2 Richtung Seestadt Aspern.

Sie ist unterwegs zu einem Termin im Stadtentwicklungsgebiet, der ihr und ihrer Art, mit Menschen in Kontakt zu treten, liegen wird. Sie spaziert mit Bürgern durchs Grätzel, hat in kurzen Vieraugengesprächen Zeit, sich deren Probleme anzuhören.

Bei der Anreise schaut sie durchs U-Bahn-Fenster runter auf die Donauinsel und seufzt. Kein einziges Mal sei sie bisher heuer schwimmen gewesen. Auch nicht im Gürtelpool? Hebein lacht. Sonst schaut sie bei öffentlichen Auftritten oft ernst und konzentriert. Jetzt tanzen Lachfalten um ihre Augen.

Es sind keine übertriebenen oder gar gehässigen Emotionen, die Hebein an den Tag legt, wenn die Sprache auf dieses Thema kommt. Aber immer noch wundert sich die Wiener Vizebürgermeisterin über den gewaltigen Wirbel, den dieses neun mal fünf Meter große Becken, das im Sommerloch auf dem vielbefahrenen sechsspurigen Gürtel aufgestellt wurde, erzeugt hat.

"Wenn wir nichts tun, wird sich unsere Stadt bis 2050 um 7,6 Grad aufheizen. Der öffentliche Raum ist ungerecht verteilt." Birgit Hebein, Grüne
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Die Opposition wetterte dagegen wegen der hohen Kosten von 160.000 Euro und warnte vor einem Verkehrschaos, das aber ausgeblieben ist. Hebein wird im Wahlkampf noch oft argumentieren, warum es wichtig ist, solche Aktionen zu setzen. Aus voller Überzeugung spricht sie dann davon, dass Wien bis 2050 um 7,6 Grad heißer werde, wenn man nicht gegensteuere. Und auch in Regionen wie dem Gürtel hätten sozial schwächere Personen Anrecht auf Grünraum.

Zweimal habe sie beim Besuch der Gürtelfrische West ihren Bikini mitgehabt, erzählt sie mit Blick auf das Donauglitzern. Eine Runde geschwommen sei sie wegen des erwartbaren Medienwirbels dann aber lieber doch nicht. Hebein im Badegewand? Der Boulevard hätte die Bilder medial ausgeschlachtet. Es war sicher die richtige Entscheidung, den Sprung ins kühle Nass auszulassen.

Der Gürtelpool war der Sommerloch-Aufreger des Jahres 2020 – Hebein kam zur Eröffnung.
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Seit Hebein Spitzenpolitikerin ist, hat sie ihren Kleidungsstil der Rolle angepasst. Statt bunter Muster und verspielter Details trägt sie nun knielange Kleider, schlichte Hosen, einfarbige Tops, niedrige Absätze.

Es ist nicht das einzige Zugeständnis an die Funktion. Sie würde eigentlich gerne öfter provozieren, hat man in diesem Moment bei der U-Bahn-Fahrt nach Aspern das Gefühl. Die Grünen, die seit fast zehn Jahren in Wien und seit einigen Monaten im Bund mitregieren, kennen das politische Spiel aber mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass das Risiko anzuecken zu hoch ist.

Koalitionsarbeit ist das tägliche Eingehen von Kompromissen. Das merkt man in Wien etwa bei den Meinungsunterschieden zum Bau des Lobautunnels durch das Naturschutzgebiet, der von grüner Seite einfach nicht mehr thematisiert wird. Oder im Bund am Streitpunkt, Flüchtlinge aus Moria nach Österreich zu holen, wo die Grünen aus Überzeugung viel mehr zum Handeln drängen würden – aus Koalitionsräson bei entsprechenden Anträgen der Opposition im Parlament aber sitzen bleiben.

"Noch sechseinhalb Wochen", antwortet Hebein wie aus der Pistole geschossen auf die Frage, wie lange der Wahlkampf, der zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so richtig an Fahrt aufgenommen hat, noch dauern wird. Für Hebein ist es der Beginn eines Endspurts. Sie hat bereits einen zweijährigen Marathon hinter sich. Ein Rückblick in fünf Etappen.

Etappe 1 – Spitzenwahl

"Willkommen im neuen Leben." So kurz der Satz ist, mit dem Maria Vassilakou am Morgen des 27. November 2018 ihrer Nachfolgerin als Nummer eins der Wiener Grünen gratuliert, so bedeutungsschwer ist er. Hebein hat in der Nacht davor die Spitzenwahl gegen Gemeinderat Peter Kraus und Klubobmann David Ellensohn für sich entschieden – in der ersten Reihe zu sein war nie Teil ihrer "Lebensplan-To-do-Liste", wie sie selbst sagt.

Es ist eine Rolle, in die sie erst hin einwachsen muss. Nachdem Vassilakou wenige Monate zuvor ihren Rückzug bekanntgegeben hatte, entwickelte die Partei ein mehrstufiges Wahlverfahren, um eine neue Nummer eins zu finden. Hebein ist nicht die logische Nachfolgerin als Vizebürgermeisterin. Bislang ist sie vor allem mit sozialpolitischem Engagement aufgefallen – jetzt soll sie die Agenden für Verkehr und Stadtplanung übernehmen.

Für einen ersten Interviewtermin wählt Hebein den Schwendermarkt im 15. Bezirk, wo sie mit ihren Söhnen ums Eck wohnt. Dort präsentiert sie erstmals ihren Plan, wie sie "Soziales mit Ökologie verbinden" will, ein Konzept, auf dem sie bis heute beharrt. Sie kommt mit dem Fahrrad, ihrem täglichen Begleiter. Sie wählt ihre Worte mit Bedacht, schließt die Augen, bevor sie auf Fragen der Journalisten antwortet.

Vor zwei Jahren am Schwendermarkt in "ihrem" Grätzel.
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"Darf ich eine rauchen?", fragt sie, bevor ihre Antworten dann langsam und mit Unterbrechungen kommen. "So etwas ist ein Hitzepol", deutet sie in Richtung eines Asphaltstücks unweit des Marktes. "Das ist eine ärmere Gegend. Die Menschen sind viel mehr auf den öffentlichen Raum angewiesen, weil sie sich auch in Zukunft keine Klimaanlage werden leisten können." Ihre Forderung: Beschattungen installieren und Böden entsiegeln.

Interviews zu geben fällt Hebein noch nicht leicht, obwohl sie bereits seit 2010 als Gemeinderätin in der Spitzenpolitik vertreten ist. Ihre größte Stärke sei es, eine hartnäckige Verhandlerin zu sein, sagt sie selbst. Zwei Jahre später an ihrem großen Besprechungstisch im Wiener Rathaus merkt man, dass das Frage-Antwort-Spiel inzwischen Routine für sie ist. Nachdenkpausen legt sie keine mehr ein, Zigaretten sind für sie in der Öffentlichkeit mittlerweile sowieso tabu.

2018 ist sie eindeutig die Kandidatin, die am weitesten links steht. Das ist auch mit ihrer Vergangenheit zu erklären. Hebein wurde anders als viel Grüne nicht in der Umwelt-, sondern in der Friedensbewegung sozialisiert, wohnte in besetzten Häusern und unterstützte Wehrdienstverweigerer. Später arbeitete sie als Sozialarbeiterin unter anderem im Bahnhofssozialdienst der Caritas Wien. "Ja natürlich mache ich linke Politik – was denn sonst?", antwortet sie auf eine Journalistenfrage kurz nach ihrer Bestellung.

Etappe 2 – Angelobung

Zunächst sorgte das auch beim Koalitionspartner SPÖ für Kopfzerbrechen. Zu nachhaltig die Erinnerung an Hebeins Kritik am Alkoholverbot am Praterstern, das der zu diesem Zeitpunkt noch designierte Bürgermeister Michael Ludwig im April 2018 verkündete. Eine "populistische Scheinlösung" sei das, sagte Hebein damals.

Beim Ball der Wissenschaften zu Beginn des Jahres 2019 legen die beiden dann aber sogar einen Tanz zum Evergreen Love Is in the Air von John Paul Young aufs Parkett. "Ich habe mit Michael Ludwig ein korrektes Verhältnis. Für uns beide gilt Handschlagqualität", sagt sie über ihre Zusammenarbeit. Da weiß sie aber noch nicht, dass im Wahlkampf 2020 andere Gesetze gelten werden. Etwa als Ludwig ihr Konzept zur autofreien Innenstadt medienwirksam zurückwirft.

Dass die Liebe nicht immerwährend in der Luft liegt, zeichnet sich aber auch schon im ersten Halbjahr 2019 ab. Bei Themen wie der möglichen Einführung einer Citymaut klaffen die Standpunkte auseinander. Zusammen schweißt Rot und Grün der Kampf gegen Türkis-Blau im Bund. Das von der Bundesregierung vorgelegte neue Mindestsicherungsgesetz ist für sie, sie in Eintracht mit Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ), "menschlich Müll".

Mehr als 50 Medientermine absolvierte die Wiener Grünen-Chefin, viele davon im TV-Studio.
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Hebein feilt in dieser Zeit weiter an ihrem Konzept, die Sozialpolitik mit der Klimapolitik in Zusammenhang zu bringen. Sie weiß genau, dass die Grünen den durch Greta Thunberg ausgelösten Hype um die Rettung des Klimas erfolgreich für sich nutzen könnten.

Zur Angelobung ins Rathaus reist Anfang Juli erstmals ihre Familie aus Kärnten an. "Meine Zehn-Groschen-Stücke für die Hochzeit waren gesammelt, und auch der Baugrund stand schon bereit", erzählt sie aus der Vergangenheit in einfachen Verhältnissen im kleinen Dorf Feistritz an der Gail. Sie habe dort auch früher Traktor fahren gelernt als Auto fahren.

Was für Hebein an diesem 26. Juni 2019 ihr erster Tag als Vizebürgermeisterin ist, ist für Vassilakou ihr letzter. Die beiden hatten mehr als ein halbes Jahr Zeit, die Übergabe zu organisieren. In einem Interview mit dem Magazin Biber erfährt man, dass die beiden Politikerinnen seither nie wieder miteinander telefoniert haben.

Etappe 3 – Bundeswahl

Im Herbst kämpfen die Grünen um den Wiedereinzug in den Nationalrat. Hebein schließt eine Zusammenarbeit mit den Türkisen zunächst kategorisch aus: "Ich kann mir im Augenblick mit dieser Kurz-ÖVP keine Koalition vorstellen".

Doch eine solche bahnt sich schon kurz nach dem Wahlsieg der Türkisen an, die mit den Grünen Gespräche führen wollen. Hebein nimmt bei den Koalitionsverhandlungen stets an der Seite von Parteichef Werner Kogler Platz und ist federführend für das Kapitel Soziales zuständig. Von Anfang an wird sie auch als mögliches Mitglied einer künftigen Regierung gehandelt. Infrage käme sie als Sozialministerin. Hebein winkt aber bald schon selbst ab. Der in weiten Teilen der ÖVP sehr akzeptierte Rudolf Anschober erhält den Vortritt.

Auftritte im Freien oder auf der Straße waren Corona-bedingt in der Minderzahl.
Foto: Robert Newald

Ihre damalige Ablehnung einer grün-türkisen Koalition holt sie auch in diesem Wien-Wahlkampf ein. Immer wieder erinnern sie politische Gegner an ihr Umschwenken und stellen in den Raum, dass sie auch diesmal bei ausreichendem Stimmenanteil wieder mit der ÖVP gemeinsame Sache machen könnte, etwa in einer Kombination mit den Neos. "Ich stehe für Experimente nicht zur Verfügung", dementiert Hebein.

Rot-Grün fortzusetzen ist ihr großes Ziel. Erreichen will Hebein das "beste grüne Ergebnis, das wir je bei der Wien-Wahl hatten". Eine konkrete Zahl nennt sie dabei nie. Aber es sind wohl die 14,6 Prozent, die Vassilakou bei der Wien-Wahl 2005 erreichen konnte, an denen Hebein gemessen werden wird.

Etappe 4 – Corona-Pandemie

Als im Frühling der Lockdown verkündet wird, installiert sie Pop-up-Radwege, um dem Radboom gerecht zu werden. Etwa auf der Praterstraße. Dafür wird ihr Aktionismus vorgeworfen. Andere Straßen macht sie zu vorübergehenden Begegnungszonen. Mit ihrem Vorschlag, ganze Straßenzüge für Autos zu sperren, um den Menschen mehr Platz zum Spazierengehen zu geben, scheitert sie. Die SPÖ zieht sie vielmehr damit auf, dass sie den direkten Draht zum Gesundheitsminister nicht nutze, um eine Öffnung der Bundesgärten zu erreichen.

Als im Herbst die Infektionszahlen stetig wieder hinaufgehen, widerstrebt es Hebein, Corona als Wahlkampfthema zu verwenden. Sie will die Menschen nicht verunsichern und kritisiert die "Besserwisserei von Politikern, die zu Virologen werden". Damit lässt sie im Gegensatz zu den anderen Kandidaten aber auch die Chance liegen, Kritik an der SPÖ zu üben, in deren Händen die Gesundheitsagenden liegen und von der sie sich im Sinne einer Wählerstimmenmaximierung deutlich abgrenzen sollte.

Einzig beim Thema Verkehr kennt sie keine Zurückhaltung, als sie der SPÖ etwa öffentlich ausrichtet, dieser seien Parkplätze noch immer wichtiger als der Klimaschutz. Verdutzt ist sie dann trotzdem, dass ihr der Bürgermeister den Erfolg einer verkehrsberuhigten Inneren Stadt nicht gönnt und verfassungsrechtliche Bedenken äußert. Die Autos aus dem ersten Bezirk zu verbannen hätte eines der grünen Wahlkampfhighlight werden sollen.

Etappe 5 – Wien-Wahl

So sind es Hebeins Laute "mimimi, momomo", die im Finish hängenbleiben. Während einer der unzähligen Wahlkonfrontationen trifft die grüne Spitzenkandidatin 13 Tage vor der Wahl auf Heinz-Christian Strache. Er greift sie an, weil sie als Vizebürgermeisterin nach Unruhen zwischen Türken und Kurden in Favoriten an einer der Demonstrationen teilgenommen hat. Sie zeiht ihn mit ihrem "mimimi" der Weinerlichkeit. Die Pointe sitzt und wird in sozialen Medien ein Renner.

Trotzdem kommt der Medienwahlkampf Hebein nicht entgegen. Bei TV-Auftritten wirkt sie oft genervt und müde. Natürlicher und frischer ist sie, sobald keine Kameras mehr auf sie gerichtet sind. Dann verfällt sie gerne in Dialekt, spricht mit Bauhacklern genauso auf Augenhöhe wie mit Universitätsprofessoren oder Pensionisten. Wenn sie es mit den Parteien des rechten Lagers zu tun hat, kann sie ihre Aversion nicht verbergen.

Zwei Wochen vor der Wahl sinken die Umfragewerte. Wurden den Grünen im Sommer schon 16 Prozent prognostiziert, gehen manche Institute jetzt davon aus, dass nur 13 Prozent möglich sein werden. In der grünen Blase wird schon gemunkelt, dass es die falsche Strategie war, die Bekämpfung der Klimakrise mit sozialen Anliegen in einen Topf zu werfen.

Dabei steht im Wahlprogramm: "Wir machen Wien zur Klimahauptstadt. Und wir machen Wien zur Sozialhauptstadt." Bei der Präsentation will Hebein dies kurz und knackig darstellen: "Wir tun etwas für die Lunge und das Herz dieser Stadt." Aber sie stockt mitten im Satz. Er geht auch ihr nur sperrig über die Lippen.

War es die richtige Entscheidung, die eigene Vergangenheit als Sozialpolitikerin nicht links liegen zu lassen? Dringt sie mit ihrem Anliegen durch, Autos genauso aus dem Stadtbild zu verbannen, wie Armut zu bekämpfen?

Der Pop-up-Radweg auf der Praterstraße sorgt für Wirbel. Hebein fuhr mit Bezirkschefin Uschi Lichtenegger Probe.
Foto: Christian Fischer

Bei der Abschlussveranstaltung will sie die Idee den Wählerinnen und Wählern, aber auch den Funktionärinnen und Funktionären, die im Wahlkampf für sie gelaufen sind, noch einmal näherbringen. Sie hat die perfekte Location dafür ausgewählt: das Hotel Magdas im zweiten Bezirk, das von ihr konzipiert sein könnte.

Hier funktioniert die Symbiose aus sozialem Zusammenhalt und Wahrung von Grünflächen perfekt. Im von der Caritas geführten Betrieb arbeiten Asylberechtigte. Es befindet sich im Prater, der Freizeitoase im Zentrum Wiens. Selbst im Hochsommer verweilt man hier gerne im schattigen Gastgarten.

Doch wieder macht Corona einen Strich durch die Rechnung. Weil es im Kampagnenteam einen Infizierten gibt, muss die Bühne noch vor ihrem Gebrauch demontiert werden. Der Event ist abgesagt. "Beim Abbauen seids schnell", ruft ein Kellner dem grünen Team zu.

Zu dem Zeitpunkt, zu dem Hebein das Wort hätte ergreifen sollen, verräumen die Mitarbeiter die letzten Wahlkampfgoodies in den Lieferwagen – und fahren unverrichteter Dinge wieder ab. (Rosa Winkler-Hermaden, 10.10.2020)