Viele genießen ASMR-Videos, manchen graust es auch davor: Die starke Abneigung von bestimmten Geräuschen nennt man Misophonie.

Foto: Youtube/Screenshot

Marias Finger fahren langsam durch die Plastikborsten der Haarbürste. Dann klopft sie mit ihren Fingernägeln langsam auf das Holz und bewegt die Bürste zur Seite, bis das Klopfen nur noch aus dem rechten Kopfhörer kommt. Tap, tap, tap, dann zum linken Ohr. "Die Töne erinnern mich an den Klang von Regen", sagt sie sanft.

Bei einigen Zusehern lösen Holzklackern und Flüstersingsang etwas aus: "Eine ganz sanft kribbelnde Welle, die sich meist vom Hinterkopf über den Nacken bis zur Brustwirbelsäule ausbreitet, begleitet von einem Gefühl der Entspannung." So beschreibt es einer der Menschen, der ASMR empfindet.

Mit fast 23 Millionen Views eines der erfolgreichsten ASMR-Videos.
GentleWhispering

ASMR steht für "Autonomous Sensory Meridian Response" – ursprünglich ein pseudowissenschaftlicher Hilfsbegriff, der sich fest etabliert hat. Wie viele Menschen ASMR spüren, weiß noch niemand. Informelle Umfragen deuten in Richtung 30 Prozent. Beliebte Auslöser für das Gefühl sind Flüstern, Klopfen, Rascheln oder Essgeräusche.

Rollenspiele mit Riesenaufwand

Auch persönliche Aufmerksamkeit "triggert" viele, im endlosen ASMR-Universum finden sich hochwertig produzierte Rollenspielvideos vom Friseurbesuch bis zur Beratung beim Drachenei-Kauf. ASMR ist längst zur Kunstform geworden. Die Videos – und insbesondere die Töne – sind oft in hoher Qualität aufgenommen, Kopfhörer werden empfohlen.

Dieses Drachenei-Verkaufsvideo ist Teil einer hochwertig produzierten Serie.
Goodnight Moon

Sucht man den Urknall des Flüsterns, muss man in den hintersten Ecken des Internets wühlen und landet bei "okaywhatever51838". "Weird sensation feels good" nannte dieser User 2007 seinen Eintrag in einem Gesundheitsforum – und beschrieb dann das, was mittlerweile als ASMR bekannt ist. 89 Antwortpostings folgten. Der Grundtenor: Ich habe das auch! Der erste Schritt vieler einsamer "tingleheads" zu einer aktiven Gemeinschaft war gemacht. Bald begannen die ersten, Videos zu produzieren – seit 2011 auch die in den USA lebende Maria, auf Youtube "Gentle Whispering ASMR". Sie ist so etwas wie die Grande Dame des Kribbelns, ihre Videos wurden insgesamt 804 Millionen Mal aufgerufen.

Therapeutisch

Auch Bernd S. (Name der Redaktion bekannt) fand über Maria zu ASMR. Nach einem traumatischen Erlebnis litt er an Panikattacken, trotz einer erfolgreichen Gesprächstherapie blieb "eine wahnsinnige innere Anspannung". Auf Youtube wurde ihm zufällig ein Video vorgeschlagen. "Es war einerseits ein eigenartiges Gefühl, einer Unbekannten zuzuhören, die einem ins Ohr flüstert. Aber gleichzeitig waren die ‚tingles‘ ein sehr angenehmes Gefühl." Seit Jahren schaut – oder hört – S. jeden Tag vor dem Schlafengehen ASMR-Videos. Nicht mehr wegen des Kribbelns: "Für mich ist es eine Entspannungsroutine geworden. ASMR hilft mir extrem, weil ich diese innere Unruhe unter Kontrolle bekomme."

S. ist nicht allein: Unter den Videos finden sich Dankeskommentare, in einer wissenschaftlichen Arbeit gaben 80 Prozent der Befragten an, dass sich ihre Laune durch ASMR verbessert. Die Videos helfen demnach bei Stressabbau, bei Angststörungen – und vor allem beim Einschlafen. Am öftesten wird "ASMR" zwischen Mitternacht und drei Uhr früh gesucht.

Für viele Hörer lebt ASMR von hoher Soundqualität.
StacyAster

Woher das Gefühl evolutionär kommt, ist noch nicht gesichert. Hirnscans deuten darauf hin, dass die Trigger unseren Körper an Vertrautheit und Bindungsaufbau erinnern. Und wer von Maria in den Schlaf gesäuselt wurde, versteht das auch ohne Kribbeln. (Martin Schauhuber, 11.10.2020)