Plakat zur Volksabstimmung 1920, wo die slowenischsprachigen Kärntner mehrheitlich für den Verbleib in Österreich stimmten. Viele Jahrzehnte feierte man das mit deutschnationalem Fahnenschwingen.

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Fünfzig Jahre sind ein Menschenleben. Die Bilder von damals, als Kärnten am 10. Oktober 1970 den 50. Jahrestag der Volksabstimmung beging, sind noch immer präsent, und gerade deshalb misstraue ich ihnen. Was ich damals als zehnjähriges Kind hörte und sah, wird überlagert mit späteren Bildern, anhand derer mir nach und nach erst ihre Zuordnung im größeren Zusammenhang und damit ein gewisses Begreifen gelang.

Es war ein Samstag. Ich sehe uns, meine Schwester und mich, an der Hand unserer Nachbarin gegenüber in der Nähe der Stadtpfarrkirche an den Straßenrand gedrängt stehen. Die Nachbarin ist Volksschullehrerin, fröhlich, stramm deutschnational und singt im Kirchenchor. Pünktlich am ersten Oktober hängt sie die Kärntner Fahne aus dem Fenster, und weil sie im dritten Stock wohnt, verdecken die Fahne das Fenster unseres Wohnzimmers. Jahrelang habe ich den Herbstbeginn an drei Farben, Gelb, Rot, Weiß, erkannt.

"Plenica visi"

Der Herbst ist der beste Maler, sagt die Lehrerin. "Plenica visi", die Windel hängt, sagt meine Schwester, die zwei Jahre älter und schon weiter ist in der Zuordnung der Bilder. Zu Hause sprechen wir ausschließlich Slowenisch. Auf der Straße ist es manchmal nicht so ratsam, und als ich einmal ausgerechnet auf der 10.-Oktober-Straße meine Mutter frage, ob die berühmte Konditorei am Eck auch Cremeschnitten wie die aus Bled hätte, rempelt uns ein Hellhöriger vom Gehsteig: "Horuck, iban Loibl zruck." Die Cremeschnitten sind kleiner als die in Bled, dafür süßer und fester, sodass einem danach angenehm schlecht ist.

Der Chef läuft im weißen Konditormantel vorbei, begleitet von zwei schwarzen Doggen, grüßt mit vornehmem Nicken die Stammgäste, sieht nach dem Rechten in der Rezeption, schließlich ist das Haus auch ein Hotel. Am 5. April 1938, als der Führer Klagenfurt besuchte, wurden Sachertorten an die Bevölkerung verteilt. Sie waren mit weißen Hakenkreuzen verziert, bei einigen hätten die abgewinkelten Arme in die "falsche" Richtung gezeigt, "verhakelt" sozusagen, wahrscheinlich war man auf den überraschenden Besuch nicht vorbereitet.

Der Festzug will kein Ende nehmen. Stundenlang bewegen sich die Kolonnen durch die Straßen auf das Stadtzentrum zu, Abteilungen, Regimenter, Uniformierte, Trachtenträger aus allen Tälern und Gemeinden, Helme, Goldhauben, Barette, Schirmmützen, Feldmützen, Sportvereine, Turnvereine, Traditionsvereine, Rotes und Schwarzes Kreuz, Feuerwehren, Bürgerwehren, Musikkapellen, Chöre, Sängerschaften, Kameradschaftsbund, Heimatdienst, Abwehrkämpferbund, dazwischen blumengeschmückte Festwägen, Kutschen, "lebende Bilder", in historischen Kostümen wird immer wieder der Stimmzettel in die Urne gesenkt, ein Schmied schmiedet das Eisen, der steinerne Fischer ist aus Pappmaché. Das Original steht tonnenschwer am Benediktinermarkt, unbewegt seit 1606, die Inschrift sagt, er will "so lang da bleiben sthan, pis mir meine Füsch und Khrebs abgan". Und über den Köpfen bewegen sich Fahnen im Rhythmus des Marschtritts, manche wie Monstranzen vorangetragen, manche aus der Hüfte heraus geschwenkt oder geschultert, in allen Farben und Formen, Flaggen, Standarten, Wimpel, Wappen und Regimentsabzeichen.

Uniformen der Verbindungsstudenten

Den meisten Bildern fehlt der Ton. Bestimmt wurde Musik gespielt und gesungen, geklatscht, gejubelt, gerufen. An das schnalzende Geräusch der Stiefel auf dem Asphalt erinnere ich mich, als die Verbindungsstudenten aus Graz vorbeimarschieren. Mir gefallen ihre Uniformen, und die Lehrerin sagt, wenn ich brav lerne, dürfte ich auch einmal so daherkommen in voller Wichs, und das sei kein Säbel, sondern ein Paradeschläger. Meine Berufsentscheidung, Fußballer bei Ajax Amsterdam, Trikotnummer 14, behalte ich für mich.

Erst viel später habe ich begriffen, warum wir Kinder damals an etwas teilnahmen, das uns völlig fremd war. Mein Vater kannte die Kärntner Verhältnisse und das fein gesponnene Myzel der Klagenfurter Gesellschaft, er schätzte den Druck richtig ein, dem wir ausgesetzt waren. Das Wichtigste war ihm eine möglichst umfassende Ausbildung, und weil er die im slowenischen Gymnasium jener Zeit als unzureichend empfand, gingen wir in eine deutsche Schule. Zu Hause gab er uns die slowenischen Klassiker zu lesen, die er liebte, und jeden Freitag gab es in der Schule drei Stunden Slowenischunterricht als "Freigegenstand", in dem wir Grammatik und Orthografie eingetrichtert bekamen.

Adieu, Ajax

Dummerweise wurde gerade am Freitag intensiv Fußball trainiert, also adieu, Ajax Amsterdam. An die identitätsstiftende Funktion einer Pädagogik, die hier das eminent Deutsche und dort das eminent Slowenische definierte, glaubte mein Vater nicht, er hatte in seiner Schulzeit erlebt, wie aus diesem Destillat Nationalismus, Hass und Gemetzel entstanden. Das hinderte ihn nicht daran, klar Stellung zu beziehen: Der Ortstafelsturm entsetzte ihn, ohne dass er wirklich überrascht gewesen wäre, an der "Volkszählung besonderer Art" nahmen wir nicht teil. Über literarische Neuerscheinung eines Florjan Lipuš, Gustav Januš oder Fabjan Hafner freute er sich wie ein kleines Kind: "So geht das", sagte er, das Buch hochhaltend, und meinte damit nicht nur die literarische Qualität.

Samo Kobenter wurde 1960 geboren und ging nach der Matura in Klagenfurt nach Wien, wo er Germanistik und Kunstgeschichte studierte. Er wurde kein Profifußballer, sondern Journalist und war unter anderem viele Jahre Innenpolitikredakteur beim STANDARD, ehe er 2007 Sektionschef des Bundes-Pressedienstes, Herausgeber der "Wiener Zeitung" und 2011 Sektionschef im Sportministerium wurde. Heute ist Kobenter Fachreferent für kulturelle Angelegenheiten, institutionelle Vernetzung, Volksgruppen und Sonderprojekte der Kärntner Landesregierung.
Kobenter

Dem Einwand, ob er damit der Literatur nicht etwas aufbürde, was die Politik leisten müsste, begegnete er mit dem berühmten Satz von Gilles Deleuze, dass in kleinen Literaturen alles politisch sei, weil sie nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die Literatur einer Minderheit sei, die sich einer großen Sprache bediene. Das dazugehörige Buch schenkte er mir wenig später, und als Widmung hatte er ein Zitat herausgehoben: "Was der einzelne Schriftsteller schreibt, konstituiert gemeinsames Handeln, und was er sagt oder tut, ist bereits politisch, auch wenn die anderen ihm nicht zustimmen." Es war offensichtlich, dass er der Kunst die Etablierung gemeinsamen Handelns eher zutraute als der Politik.

Gespräch auf Augenhöhe

50 Jahre sind ein Menschenleben. Mein Vater hat die Wende zum Besseren nicht mehr erlebt. Dass sich Kärntner Heimatdienst und Vertreter der slowenischen Dachorganisationen auf die Lösung auch nur einer offenen Frage einigen könnten, war für ihn undenkbar. Ihn hätten auch die Zwischenrufe "zu wenig" und "zu viel" nicht gestört, weil sie den Diskurs befördern, weil sie für das Gespräch auf Augenhöhe unabdingbar sind.

Und ganz bestimmt hätte er seine reine Freude an der Entwicklung des Slowenischen Gymnasiums, in dem unter anderem Slowenisch, Deutsch, Italienisch und Englisch unterrichtet wird. Wahrscheinlich wäre ich heute dort zur Schule gegangen, und bestimmt ein besserer Fußballer geworden: Zu meiner Zeit kassierte unsere Schulmannschaft dort regelrechte Packungen. Und ganz sicher hätte es meinem Vater den Seufzer beim Anblick meines Maturazeugnisses erspart, das ein "Gut" in Slowenisch und ein "Sehr gut" in Deutsch auswies: "Umgekehrt wäre nicht verkehrt." (Samo Kobenter, 10.10.2020)