Mag es hinter ihm noch so bunt zugehen, Ludwig gibt den geerdeten Typus im blauen Anzug, bieder, verlässlich, die Hände sanft übereinandergelegt: In aufgeregten Zeiten kann das beruhigend wirken.

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Er steht mitten auf einem riesigen Parkplatz in Wien-Simmering. Seine Hände hat er sanft übereinander in Bauchhöhe platziert, die Beine sind leicht gegrätscht, die Füße nach außen gedreht und fest auf dem Boden verankert. Kein nervöses Spielbein, keine unruhige Geste. Er steht einfach da. Statisch, praktisch, gut geerdet.

Um ihn herum haben einige Dutzend junge Leute in Arbeitsmontur Aufstellung genommen, Mädchen mit bunten Haaren, Burschen mit bemerkenswerten Tattoos. Sie stehen locker im Halbkreis um den Ehrengast, wie es die Covid-19-Schutzverordnungen vorsehen. Als Lehrlinge der Wiener Linien wissen sie, was sich gehört.

Also schauen sie den Wiener Bürgermeister beinahe interessiert an. Und er, in seinem ewigen blauen Anzug, der gut, über dem Bauch sehr auf Figur geschnitten ist, er lächelt. Zumindest mit den Augen, so viel kann man über der dunkelroten Maske sehen. Die Mittagshitze hat sich an diesem heißen Septembertag voll auf den Parkplatz gelegt.

Wer kann, flüchtet in den Schatten der großen Werkshallen rundherum. Wer nicht kann, schwitzt. Nur Michael Ludwig nicht. Zumindest nicht sichtbar. Er hört einem Wiener-Linien-Offiziellen konzentriert bei dessen Preisung der hervorragenden Lehrlingsausbildung beim städtischen Transportunternehmen zu.

Ludwigs Frisur, zeitlos unmodern nach hinten gelegt, sitzt. Langsam nimmt er die Maske ab und wartet auf seinen Einsatz. Gleich ist es so weit. Der Offizielle begrüßt ganz herzlich "unseren Bürgermeister Michael Häupl – ah! – Ludwig!!!".

Assoziation mit der Legende

Durchs Publikum geht ein amüsiertes Raunen, dem Generaldirektor ist der Schreck ins Gesicht geschrieben, ein paar aus Ludwigs Team verdrehen die Augen. Passiert nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal. Der Angesprochene lächelt nicht einen Hauch weniger und beginnt seine Ansprache an die werktätige Jugend.

Einerseits ist es natürlich blöd, wenn man sich mit dem Vorgänger den Vornamen teilt. Andererseits gilt Häupl vielerorts in Wien als lebende Legende, fast vom Status eines Schneckerl Prohaska oder eines Wolferl Ambros. Da schadet ein bisschen positive Assoziation nicht. Noch dazu im Wahlkampf.

Welcher Politiker, außer Häupl, lieferte schon so legendäre Sprüche wie: "Man bringe den Spritzwein!" (nach erfolgreichen Koalitionsverhandlungen mit den Grünen); "Wenn ich 22 Stunden arbeite, bin ich Dienstagmittag fertig!" (an Lehrer gerichtet); oder nach einer gut geschlagenen Wahl: "Mei Wien is net deppert."

Ludwig besucht die Lehrwerkstätte der Wiener Linien: Das Thema "Sicherer Lehrplatz in Corona-Krisenzeiten" ist wie aufgelegt für den SPÖ-Spitzenkandidaten.
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Um es vorwegzunehmen: Solch gewollt beiläufiges, urwienerisches Grantlertum wird Ludwig, seit Mai 2018 im Bürgermeisteramt, eher nicht produzieren– wahrscheinlich nicht einmal dann, wenn er es, wie sein Vorgänger, schaffen sollte, 24 Jahre dort zu bleiben.

Bequemer Vorsprung

Michael Ludwigs Schicksal als Häupls Nachfolger ist, dass er im ständigen Vergleich zu diesem steht. Zumindest so lange, bis er eine Wahl derart erfolgreich geschlagen hat, dass Häupls Glanzzeiten nur mehr ein Fall für die sozialdemokratischen Geschichtsbücher sind. Weil die Wiener Gegenwart weiterhin beruhigend rot gefärbt ist. Das ist, seit 1945, der natürliche Anspruch der Sozialdemokraten an den jeweiligen Vorsitzenden der mächtigen Wiener Landespartei: dass er den Wahlsieg heimbringt – und das Wiener Rathaus fest in roter Hand bleibt.

Es sieht ganz danach aus, als könnte Michael Ludwig am Sonntag diesem Anspruch gerecht werden. Die Umfragen sagen ihm einen bequemen Vorsprung voraus; dass er die 40-Prozent-Hürde knackt, bezweifelt kaum ein Politik-Auskenner. Um das nicht zu vergeigen, führte er in den vergangenen Wochen einen Sicherheitswahlkampf. Der passte ebenso gut zu ihm wie zur derzeitigen Pandemie-Situation.

Ludwig behauptet gerne, dieser Wahlkampf sei für die SPÖ besonders schwierig, weil all das, was sie besonders gut könne, derzeit nicht möglich sei: Hausbesuche in den 23 Bezirken, große Veranstaltungen, Marktbesuche mit großer Entourage.

Was aber immer geht: Herz erwärmende "Ich bin einer von euch"-Geschichten in der Kronen Zeitung oder auf W 24, dem Haussender der Wien-Holding, einer 100-Prozent-Tochter der Stadt. Hier durfte der Bürgermeister in der Sonntagsausgabe einen Tag lang Müllmann der MA 48 spielen; da kann er auf ausgeruhten Stadtspaziergängen aus seiner Floridsdorfer Kindheit im Gemeindebau erzählen.

Rührig und ein bisserl fad

Der Person Michael Ludwig kommt entgegen, dass die Corona-Krise alle Parameter für Wahlkämpfe umgeworfen hat. Er konnte das, was bei Politikern leicht als Schwäche gilt, in Stärken umwandeln. Ludwig ist kein Showman, er schiebt keine Wuchteln.

Wenn er vor großen Menschenansammlungen spricht, könnte er auch als Obmann eines Floridsdorfer Kleingartenvereins bei der Jahreshauptversammlung durchgehen – wo er im Übrigen auch nach wie vor wohnt. Eh engagiert, eh rührig, aber halt auch ein bisserl fad.

Ludwig wurde mit fortschreitendem Wahlkampf immer entspannter.
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Ludwig hätte für das rote Wahlkampfteam keine geringe Herausforderung sein können. Tatsächlich wirkt er auf die Leute wie ein willkommenes Beruhigungsmittel in hysterischen Zeiten. Das scheint so beim Betriebsbesuch bei den Wiener Linien und auch im TV-Studio – dem am häufigsten frequentierten Wahlkampf-Battleground, nicht nur für Ludwig.

Für ihn erwies sich das Medium Fernsehen als geradezu ideal. Wie ein gutmütiger Onkel schwebte er über den Debatten, ließ sich auf keine großen Streitereien ein, beruhigte, verströmte Sicherheit. Kein optimales Corona-Management in Wien? Aber geh! Man kann immer alles besser machen – aber im Grunde ist alles okay in Wien. Die Spitäler sind gerüstet, in den Lokalen werden die Gäste registriert, Wien hat als Erstes vom Bund die Wiedereinführung der Maskenpflicht gefordert.

Verteilung der Wohltaten

Ludwig kommt nicht in Fahrt, er gleitet dahin und verteilt dabei Wohltaten: Schnitzelgutschein, Reparaturgutschein, Gratis-Grippeimpfung. Wer trotzdem ein Haar in der Suppe findet, beteiligt sich traurigerweise am Wien-Bashing der Bundesregierung. So ging es dahin, den ganzen lieben Corona-Wahlkampf lang. Hätte der Wahlkampf noch zwei Wochen länger gedauert – man hätte ihm Überheblichkeit vorgeworfen, so sehr hielt er sich entspannt aus allen Debatten heraus.

Bei der Krone-Elefantenrunde auf Puls 24 beteiligte sich Ludwig demonstrativ nicht an der Debatte zum Thema Integration. Der Effekt: Die Kandidaten der anderen Parteien kamen gar nicht auf die Idee, ihn direkt anzugreifen. Sie fielen übereinander her. Ludwig stand auffällig unauffällig daneben, stützte sich entspannt auf sein Rednerpult, die Beine leicht gegrätscht, die Füße nach außen gedreht – und schwieg konzentriert.

Das Thema, das zu normalen Zeiten für ihn mindestens so unangenehm sein könnte wie "Krankenhaus Nord" und "Energiering", perlte an Ludwig ab wie Regen an einer Pelerine. Ludwigs Stärke ist auch die Schwäche seiner politischen Gegner.

Rote Selbstverständlichkeiten

Er ist kein mitreißender Redner. Er sagt rote Selbstverständlichkeiten wie: "Den sozialen Wohnbau in Wien hat nur die Sozialdemokratie durchgesetzt", "Wir sind stolz auf das beste Gesundheitssystem der Welt" und so weiter. Dennoch bleibt kaum ein Satz als Zitat hängen. Ludwig spricht eher leise, und wenn er die roten Stammwähler adressiert, fällt er in leichten Dialekt: "I hob immer g’sogt, die, die unsere Gemeindebauten bauen, sollen a drin wohnen" – etwa, wenn es um die Frage geht, wer vom geförderten Wohnbau profitieren soll.

Das ist dann zwar auch nicht Hardcore Floridsdorf. Aber Ludwigs Sprache hat den Wiener Schleif, der der deutschen Sprache die Härte nimmt, bis sie weich und wienerisch klingt. Wenn er einen Angriff auf einen politischen Gegner startet – am liebsten auf Gernot Blümel –, spricht er in der Passivform: "Das, was in der Öffentlichkeit behauptet worden ist über Wien, dass wir ein Bremsklotz sind, da frag ich mich schon, kennt man diese Stadt überhaupt?"

Wer so formuliert, nimmt dem Angriff die Spitze und stellt sich bürgermeisterlich-nobel über alle Streitereien. Das führt zum Beispiel dazu, dass Blümel, der ÖVP-Spitzenkandidat, Ludwig, dem SPÖ-Spitzenkandidaten, in laufender TV-Konfrontation trotz aller Kritik an ihm zugesteht, "dass er Wien mindestens genauso liebt wie ich". Puff! Spitze versenkt.

Ein Büro, so groß wie ein Ballsaal: Schon Ludwigs Vorgänger Michael Häupl residierte hier in Premiumlage. Neu ist der Flatscreen.
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Mitte Februar, als von Lockdown und Social Distancing noch nicht die Rede war, hielt Ludwig Wiens in der K47-Eventlounge, einem eleganten Glaskubus am Donaukanal, vor mehr als 100 geladenen Gästen eine Grundsatzrede zur Zukunft. "Entschlossen für Wien" lautete das Motto, und Ludwig referierte, an ein Glaspult gelehnt, eine gute Stunde lang über die Erfolge der Stadt.

Tourismus, Unternehmensansiedlung, Gesundheitsgarantie, Wohnungsneubauten, Pflegegarantie, Lehrplatzgarantie, Abwasserentsorgung – kaum einen Themenbereich ließ er aus. Er sprach lange und ließ dennoch Fragen offen. Etwa die, was denn nun die eine, die Leitvision für die Stadt für die kommenden Jahrzehnte sei. Weiteres Wachstum? Forschungs- und Bildungsexzellenz? Ein soziales und/oder ökologisches Paradies? Ludwig deutete vieles an, blieb in den Details jedoch vage.

Der Parteiberuhiger

All das spielt acht Monate später keine Rolle mehr. Der Tourismus liegt, Corona-bedingt, darnieder. Wiens Unternehmen brauchen konkrete finanzielle Hilfe – und viele Menschen, die ihren Job verloren haben, sowieso. Es geht in diesem Wahlkampf um sichere Lehrstellen, sichere Gesundheitsversorgung, ein sicheres Sozialsystem. Maßgeschneiderte SPÖ-Themen.

Was Ludwig zusätzlich hilft: Die Partei rennt für ihn. Das ist nicht selbstverständlich, wenn man die Umstände seiner Amtsübernahme bedenkt. Er ging 2018 als Sieger aus einer – shocking! – roten Kampfabstimmung hervor, der jahrelange Grabenkämpfe zweier verfeindeter Lager in der Wiener SPÖ vorangegangen waren.

Galt Ludwigs Kontrahent Andreas Schieder als der "linke" Kandidat, wurde Ludwig dem rechten Lager in der SPÖ zugerechnet – worunter die großen "Flächenbezirke" in Wien fallen, die den sehr liberalen Zugang der "Häupl-Partie" zum Thema Integration schon lange viel zu esoterisch fanden. Was aber noch schwerer wog: Ludwig wurde dem "Faymann-Lager" des ehemaligen Bundeskanzlers und SPÖ-Vorsitzenden zugerechnet, der in Wien beileibe nicht nur Freunde hatte.

All diese Verwerfungen an Intrigen, (falschen) Loyalitäten und vererbten Ressentiments hat Ludwig begradigt. In der Wiener SPÖ herrscht wieder Ruhe.

Geduld, Freundlichkeit, Zuhören

Menschen in seiner Umgebung erklären das so: Der Mann verfüge über exzessive Geduld, geradezu exzentrische Freundlichkeit und das Vermögen, seinem Gegenüber schier ewig zuzuhören. "Jeder fühlt sich mit seinen Anliegen gehört", sagt einer, der ihm beruflich nahesteht. "Dafür dauern auch die Sitzungen mit ihm sehr lange", sagt ein anderer.

Wieder schiebt sich der Unterschied zu Vorgänger Michael Häupl ins Bild: Der mochte, auf Tuchfühlung mit Wählern und in teils brillanten Reden auf Parteitagen noch so sehr den volksverbundenen Fiaker geben – im Grunde blieb Häupl der Intellektuelle, der lieber auf akademischem Niveau politisierte. Raunzereien und Mühsamkeiten des Polit-Alltags langweilten ihn entsetzlich, das merkte man ihm zu Ende seiner Amtszeit auch an.

Eine Busfahrt, die ist lustig, eine Busfahrt, die ist schön, ja, da kann man was erleben und den Bürgermeister im Oldtimer-Bus der Wiener Linien seh’n: Betriebsbesuche gab es im Corona-Wahlkampf nur wenige.
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Ludwig, der Historiker, der aus der Volkshochschulbewegung der SPÖ kommt, geht wie ein Erwachsenenbildner an die Dinge heran. "Für viele ist er immer noch der Michi vom Büchertisch", sagt jemand, der ihn von früher kennt. Der Büchertisch, ein Muss bei jeder SPÖ-Veranstaltung, zeigt den historischen Anspruch der Sozialdemokratie auf Weiterbildung ihrer Mitglieder.

Von Beginn an wollte die Partei die Situation der Arbeiter nicht nur verbessern – es galt auch, eine "neue Menschheit" zu modellieren, einen Arbeiterstand, der gebildet und selbstbewusst den Hammer schwang. Dieses stolze Selbstverständnis tragen die meisten roten Funktionäre bis heute in sich.

Die Geduld des Funktionärs

Der "Michi" pflegte seinen Büchertisch über die Jahrzehnte genauso geduldig, wie er die wichtige Funktion des Antragverlesers auf Parteitagen ausfüllte. Dabei lernte er die SPÖ nicht nur in- und auswendig kennen, das schulte ihn auch darin, wie man in der SPÖ etwas durchsetzen kann.

Mit Geduld und Langmut jedenfalls – die man auch im Wahlkampf an ihm beobachten kann.

Er folgt den Ausführungen der Ärzte im luxuriösen Privatspital Rudolfinerhaus mit der gleichen Aufmerksamkeit wie den Klagen der Betreiber einer Handelsfirma in Wien-Liesing, die Migrationshintergrund haben und die Ethno-Regale in österreichischen Supermärkten beliefern.

Die "tollen Burschen, ein sehr gutes Beispiel für gelungene Wiener Integration" (Ludwig), die mittlerweile zwölf Tochterfirmen in ganz Europa gegründet haben und dort erfolgreich Cevapcici, Ayvar & Co verkaufen, sehen sich nur in Österreich, nur in Wien, mit struktureller Diskriminierung konfrontiert. Manch ein Einkäufer wolle ihre Produkte einfach deshalb nicht, weil "schon genug Kopftuchfrauen im Geschäft" einkauften. Ludwig schüttelt den Kopf, spricht von "diffusen Ängsten". Weiter lehnt er sich nicht hinaus. Er ist einfach da, hört zu, ist nett.

Immer Ärger mit Corona

Interessant wird es, wenn sich Machtpolitiker Ludwig ernsthaft herausgefordert fühlt. Mehrfach kam Wien unter Druck, weil die Zahl der Corona-Infizierten hier seit Anfang September stetig anstieg – stärker als im Rest Österreichs. Die türkise Seite der Bundesregierung ergriff prompt die Gelegenheit, die Stadtregierung besonders streng zu mahnen. Dann kommt der Hammer: Deutschland setzt Wien auf die rote Liste der touristischen Ziele, für die eine Reisewarnung besteht.

An diesem Tag besucht Ludwig die Bildungsakademie der SPÖ in der Wiener Praterstraße. Eine riesige Altbauwohnung in einem schmucklosen Gebäude, viel helles Holz, viel Rot, lange Zimmerfluchten. Ludwig widmet sich eine Stunde lang den Anliegen einer Handvoll Kinderfreunde-Funktionärinnen.

Er hört sich deren Wünsche an, die von mehr Wasser- und Naturspielplätzen über eine Lehrstelle für das Patenkind bis hin zur Bitte nach mehr Frühbetreuung an den Schulen reichen. Ludwig hört zu, schreibt mit, hält eine kleine Rede über "die Stadt der Zukunft", die ihm vorschwebt. Dann muss er gehen, den deutschen Botschafter treffen – aus aktuellem Anlass.

Vor der Türe sieht man Ludwigs verhaltenen Zorn durch die rote Maske leuchten. "Man hätte uns auch vorwarnen können", sagt er schnippisch. Und: "Wir lassen uns in Wien sicher nicht sekkieren."

Da klingt der freundliche Herr Bürgermeister plötzlich nicht mehr ganz so freundlich. (Petra Stuiber, 10.10.2020)