Die Republik feiert 100 Jahre Verfassung. Aber was steht eigentlich in unserem Regelwerk? Autor Christian Ankowitsch hat im Gastkommentar einen genauen Blick darauf geworfen. Von ihm kommt eine Lese- und Diskursempfehlung.

Auch der "Bundesadler" hat eine Erwähnung in der Verfassung.
Foto: gemeinfrei

Es gibt naheliegendere Empfehlungen als die, sich die österreichische Bundesverfassung vorzunehmen, ich weiß. Dazu kommt, dass der Autor dieser Zeilen alles andere ist als ein Fachmensch auf juristischem Gebiet. Vielmehr hat er sich dem Gesetzestext als bloß interessierter Laie genähert. Und dabei (mit wachsendem Interesse) festgestellt, dass es einige schlüssige Gründe für eine Lektüre gibt. Diese Gründe sind natürlich höchst anfechtbar, keine Frage. Melden Sie also Widerspruch an! Es wird mir recht sein, denn sobald Sie das tun, haben Sie das Ziel dieses Artikels bereits erfüllt: Sie haben die Bundesverfassung in all ihrer "Eleganz und Schönheit" gelesen, wie Bundespräsident Alexander Van der Bellen sie so treffend charakterisiert hat.

1. Die österreichische Bundesverfassung regelt nichts Geringeres als die grundsätzlichen Fragen des Zusammenlebens in Österreich. Das sind eine ziemliche Menge, und viele davon (nicht alle) sind von existenzieller Wichtigkeit für jeden Einzelnen. Schon allein diese Tatsache müsste genügen, sie zu lesen. Sie schreibt nicht nur fest, dass vor dem Gesetz alle gleich sind und dass niemand irgendwelche Vorrechte aus gleich welchem Grund (mehr) genießt, sondern auch, dass die Gleichbehandlung von "behinderten und nichtbehinderten Menschen" zu gewährleisten ist. In dieser Tonart geht es dahin, und bei vielem ist man versucht zu denken: Das versteht sich doch von selbst (die "tatsächliche(n) Gleichstellung von Mann und Frau" zum Beispiel) – und tatsächlich tut es das auch. Dennoch ist es beruhigend zu lesen, wie minutiös unsere Verfassung diese Rechte auflistet und nicht nur das, womit wir bei ...

2. ... gelandet wären, denn: Was gesetzlich garantiert ist, kann man – so dagegen verstoßen wird – gerichtlich klären lassen. Das heißt: Es steht jedem frei, vor Gericht zu gehen, wenn er sich in seinen Grundrechten beschränkt fühlt. Das wiederum ist – angesichts der eigenen Geschichte und der aktuellen Ereignisse in nicht allzu fernen Ländern – so selbstverständlich nicht und beruhigend zu wissen.

3. Die Bundesverfassung rückt ein paar Tatsachen wieder ins Bewusstsein, die die meisten von uns ein wenig verdrängt haben dürften. Die Sache mit dem Bundesheer und der Neutralität zum Beispiel. So heißt es in der Verfassung nicht nur unmissverständlich, dass Österreich sich "zur umfassenden Landesverteidigung" bekennt, sondern auch, dass es deren Aufgabe sei, unsere "Unabhängigkeit nach außen sowie die Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes zu bewahren, insbesondere zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität". Auch mittlerweile beinahe undenkbare Fragen klärt die Bundesverfassung in knappster Form: So sind für Kriegserklärungen der Nationalrat und der Bundesrat zuständig. Die müssen "als Bundesversammlung in gemeinsamer öffentlicher Sitzung" zusammentreten "zur Beschlussfassung über eine Kriegserklärung am Sitz des Nationalrates". Dem Bundeskanzler kommt die Aufgabe zu, deren Votum anschließend "amtlich kundzumachen".

4. Kinder haben Rechte. So weit, so bekannt. Dass sie in der Verfassung stehen, schon weniger. Geregelt sind sie einem eigenen "Bundesverfassungsgesetz". Darin heißt es zum Beispiel kurz und unmissverständlich: "Jedes Kind hat das Recht auf angemessene Beteiligung und Berücksichtigung seiner Meinung." Wer also geglaubt haben sollte, die Erziehung seiner Kinder sei reine Privatsache – Irrtum. Die Lektüre der acht einschlägigen Artikel verleiht den Lesenden ein Gefühl dafür, dass Menschenrechte keine Frage des Alters sind.

5. Die Sprache. Vor allem jene des "Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger" aus dem Jahr 1867 ist ein Genuss (freilich nur für jene, die Spaß an Juristendeutsch haben). Darin heißt es etwa: "Die Presse darf weder unter Censur gestellt, noch durch das Concessions-System beschränkt werden. Administrative Postverbote finden auf inländische Druckschriften keine Anwendung." Dabei handelt es sich um geltendes Recht – nur eben altertümlich formuliert. Aber das Bundesverfassungsgesetz kann da durchaus mithalten, wenn es zum Beispiel regelt, wie das Wappen der Republik Österreich auszusehen hat: Es bestehe "aus einem freischwebenden, einköpfigen, schwarzen, golden gewaffneten und rot bezungten Adler, dessen Brust mit einem roten, von einem silbernen Querbalken durchzogenen Schild belegt ist. Der Adler trägt auf seinem Haupt eine goldene Mauerkrone mit drei sichtbaren Zinnen."

6. Der Humor. Der ist selbstverständlich stets eine Frage des persönlichen Geschmacks, aber ich für meinen Teil finde Passagen wie jene, in denen die Verfassung regelt, wer welchen Amtstitel trägt, sehr unterhaltsam (solche Passagen gibt es einige in dem Gesetzestext). So heißt es zum Beispiel in Artikel 78b. (1): "Für jedes Land besteht eine Landespolizeidirektion. An ihrer Spitze steht der Landespolizeidirektor. Der Landespolizeidirektor der Landespolizeidirektion Wien trägt die Funktionsbezeichnung ‚Landespolizeipräsident‘."

7. Dass Wien der Nabel der österreichischen Welt ist, glauben die Wiener gerne. Stimmt nicht. Damit es einmal anders kommt, muss freilich "Außergewöhnliches" geschehen. Auch diese Frage klärt die Verfassung, wenngleich nicht erschöpfend bis ins Detail: "Bundeshauptstadt und Sitz der obersten Organe des Bundes ist Wien. Für die Dauer außergewöhnlicher Verhältnisse kann der Bundespräsident auf Antrag der Bundesregierung den Sitz oberster Organe des Bundes in einen anderen Ort des Bundesgebietes verlegen."

8. Sie können sofort zu lesen beginnen. Dafür laden Sie sich einfach das kostenlose PDF herunter (ris.bka.gv.at). Viel Spaß. (Christian Ankowitsch, 10.10.2020)