Im Gastkommentar warnt die Bundeskanzlerin a. D. und ehemalige Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs Brigitte Bierlein anlässlich 100 Jahre Verfassung: "Auch liberale Demokratien sind stets gefährdet, und die Gefahr findet ihren Ausdruck in Angriffen auf Rechtssysteme."

"Feindbilder und Sprachlosigkeit sind eine große Gefahr für unsere liberale Demokratie": Brigitte Bierlein.
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Das österreichische Bundesverfassungsgesetz ist eine der ältesten noch in Geltung stehenden Verfassungen Europas und der Welt. Vor mehr als 100 Jahren – in einer Zeit des Umbruchs, nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der Monarchie – wird der Rechtsphilosoph und Staatsrechtslehrer Hans Kelsen, ab 1917 persönlicher Berater des Kriegsministers, vom provisorischen Staatskanzler Karl Renner mit der Erarbeitung einer neuen Verfassung für die Erste Republik betraut; mit nur zwei politischen Grundprinzipien als Vorgabe: eine parlamentarische Demokratie und eine bundesstaatliche Dezentralisation.

Kelsen gelingt in kurzer Zeit gemeinsam mit seinen Mitstreitern ein Meisterwerk: der Entwurf einer modernen Verfassung mit einem demokratischen Rechtsstaat. Und einer bahnbrechenden Novität, dem Verfassungsgerichtshof (VfGH), mit der Kernkompetenz, als spezifisches Gericht die Gesetzgebung auf die Übereinstimmung mit der Verfassung zu kontrollieren.

Manches blieb mangels Einigung schon 1920 offen, so ein geschlossener Grundrechtskatalog, weshalb das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 rezipiert wurde.Leicht gerät in Vergessenheit, dass die Verfassung stabiler Anker eines demokratischen Zusammenlebens sein soll und muss. Nach den leidvollen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs waren die klare Absage an Gewalt und Nationalismus sowie der unbändige Wunsch nach Frieden treibende Kräfte. Eine Verfassung, ohne Präambel, klar, schnörkellos, geradezu technisch, ohne Pathos, ohne moralische Geltungshoheit. Und trotz dieser Nüchternheit und Abgeklärtheit Basis einer liberalen Demokratie, in der die Würde des Einzelnen und das Recht als Ausdruck des Volkes im Mittelpunkt stehen. Nicht die Staatsgewalt, nein, das Recht geht vom Volk aus. Recht, verstanden als Grundlage von allem.

Garant der Freiheit

Die Verfassung legt die Spielregeln im Umgang mit der vom Volk übertragenen Macht fest, wie sie an wen verteilt, ausgeführt, entzogen und vor allem kontrolliert wird.

Sie ist Fundament eines Gesellschaftssystems, das Minderheiten besonderen Schutz und Raum bietet und das gesellschaftlichen Wandel nicht nur zulässt, sondern absichert und garantiert.

Sie bildet also die Grundlage unseres demokratischen Rechtsstaates, des staatlichen Handelns, des friedlichen Zusammenlebens und sichert Grund- und Freiheitsrechte nicht nur auf dem Papier, sondern als Garant der Freiheit eines jeden Einzelnen, jeden Tag.

Verfassungsrichterinnen, -richter sind – anders als Politiker – nicht durch Volkswahl legitimiert. Politische Kategorien wie Parteiprogramme, Koalitionsverträge, "Schielen" auf Chancen für die nächste Wahl, sind keine Kriterien. Aber die Politik hat – wie überall – im Rahmen des Vorschlagsrechts an den Bundespräsidenten Anteil an der Legitimation der Verfassungsrichter. Die verfassungsgesetzlich gewährleistete Unabhängigkeit, höchste fachliche Expertise, die hohe Altersgrenze (70 Jahre), das Beratungs- und Abstimmungsgeheimnis garantieren ein höchstes Maß an unbeeinflusster Entscheidungsfindung. Auch wenn die Richterinnen und Richter unterschiedliche Weltanschauungen mitbringen: Gerade die verschiedenen Blickpunkte, die verschiedenen Herangehensweisen und die verschiedenen Zugänge ermöglichen eine breite Diskussion. Richterliche Unabhängigkeit ist kein persönliches Privileg, sondern Ausdruck der Gewaltenteilung. Das verfassungsrechtliche Verfahren endet mit einer Entscheidung, die nur von rechtlichen Argumenten getragen ist. Ob ein Gesetz klug oder politisch opportun erscheint, ist unerheblich.

Der VfGH scheut keine gesellschaftlichen Tabus. Die Frage der Zweisprachigkeit von Ortstafeln, die Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung, der Klimaschutz, die Wiederholung der Bundespräsidentenwahl, der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, die Eintragung eines dritten Geschlechts, sensible Grundrechtsfragen zu freiheitsbeschränkenden Covid-Maßnahmen oder die derzeitig in Beratung befindliche Frage der Zulässigkeit der Sterbehilfe sind Angelegenheiten von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz, die keine einfachen Schwarz-oder-weiß-Antworten kennen.

Fatale Entwicklungen

Schaut man auf die rasanten Entwicklungen in der Welt und innerhalb Europas, spüren wir den Wandel. Die traurige Wahrheit ist, dass manche Mitgliedsstaaten der EU Hebel ansetzen, die an die fatalen Entwicklungen der 1930er Jahre erinnern.Auch liberale Demokratien sind stets gefährdet, und die Gefahr findet ihren Ausdruck in Angriffen auf Rechtssysteme. Sie beginnt, wenn Richterinnen und Richter ausschließlich aus parteipolitischen Gründen ausgewählt oder ausgetauscht, Grundrechte ohne oder mit fadenscheiniger Begründung uneingeschränkt ausgehebelt werden oder der Verfall der politischen Sprache die Institutionen öffentlich diskreditiert.

Unsere Verfassung ist ein stabiles Fundament, aber eine demokratische Gesellschaftsordnung, die sich auf dieses Fundament stützt, ist anfällig für Angriffe jener, die sich durch die Freiheit zur Verantwortung des Einzelnen bedroht sehen. Umso wichtiger ist das aktive politische Engagement all derer, die erkennen, dass jeder und jede einen Beitrag zu leisten hat und dass Respekt vor der Würde und den Rechten des Einzelnen unabhängig von Geschlecht, Religion, ethnischer Herkunft oder sexueller Identität unantastbarer Konsens sein muss. Gerichte sind grundsätzlich reaktive Organe ohne Gestaltungsanspruch, aber mit Interpretationsbefugnis. Sie sind das Netz, in das man fällt, wenn Spielregeln gebrochen werden. Ohne politische Gestaltung, ohne Verbundenheit und Verpflichtung zur Demokratie, ohne Diskurs und Anspruch an die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft, die von jedem Bürger ausgeht, verliert eine demokratische Gesellschaft die Seele, und der Rechtsstaat verkommt zur Makulatur.

Respektvoller Diskurs

Es muss uns große Sorge bereiten, wenn in unserer unmittelbaren Nachbarschaft und darüber hinaus der Glaube an die unabhängige Justiz verlorengeht, wenn die Integrität von Institutionen oder Wahlen infrage gestellt werden. Österreich ist eine stabile liberale Demokratie, der Rechtsstaat krisenfest; neben kritischer Reflexion steht Optimismus. Es bleibt aber die Frage, was können und müssen wir lernen? Was kann jede und jeder Einzelne tun? Reichen die Anstrengungen, die Parlament, Universitäten, Schulen, VfGH, Justiz und Zivilgesellschaft unternehmen, um vor allem bei der Jugend das nötige Bewusstsein zu schärfen? Brauchen wir mehr Verfassungspatriotismus?

"Erwerben Sie Wissen um die Verfassung, um Ihre Grundrechte und deren Durchsetzbarkeit."

Die Rechtssysteme westlicher Demokratien sind unterschiedlich. Ihr Erfolg hat aber – abgesehen von den rechtsstaatlichen Institutionen – aus meiner Sicht ein verbindendes, ein ausschlaggebendes Element: die unbedingte Sorgfalt im Umgang mit der Sprache.

Mein Appell an alle, sowohl an junge Menschen als auch an Entscheidungsträger, Vertreterinnen und Vertreter der Medien: Reflektieren Sie Ihre Worte, sei es schriftlich oder mündlich. Unsere Rechtspraxis basiert auf dem respektvollen, intellektuellen Diskurs. Hans Kelsens klare Rechtssprache und sein Kompromissstreben mögen Vorbild sein. Hören wir einander zu, wählen wir unsere Worte behutsam, und scheuen wir nicht die Diskussion. Feindbilder und Sprachlosigkeit sind eine große Gefahr für unsere liberale Demokratie. Erwerben Sie Wissen um die Verfassung, um Ihre Grundrechte und deren Durchsetzbarkeit. Nur wer sie kennt, kann sie verteidigen, und nur wer sie versteht, weiß um ihren Wert. (Brigitte Bierlein, 11.10.2020)