Die Abreise aus Ischgl am Freitag den 13. März sorgt auch knapp sieben Monate später noch für Diskussionen.

Foto: APA / Jakob Gruber

Wien – Zur Corona-Gefahr, die von den Tiroler Behörden offenbar gezielt heruntergespielt wurde, kommt nun der Bericht der Expertenkommission, der tiefe Einblicke in überaus chaotische Tage Anfang März im Tiroler Skiort Ischgl gewährt. Bei seiner Befragung schildert der Leiter der Bezirksbehörde, Markus Maaß, dass man von der Quarantäne-Ankündigung des Bundeskanzlers quasi am falschen Fuß erwischt wurde.

Die Bundesregierung habe demnach maßgeblich zum Chaos beigetragen, berichten "Profil" und "ZiB 2" unter Berufung auf die Befragungsprotokolle der vom Land Tirol eingesetzten Expertenkommission unter Vorsitz des früheren Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes, Ronald Rohrer.

Sehr, sehr rasante Ausbreitung

Aber der Reihe nach. Am Freitag, 13. März, verkünden Bundeskanzler Sebastian Kurz, Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) und Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) kurz nach 14 Uhr, dass das Paznauntal, in dem Ischgl liegt, und Sankt Anton am Arlberg sofort isoliert und unter Quarantäne gestellt werden. Sie sprechen von einer sehr, sehr rasanten Ausbreitung der Infektionen. Das Gerücht hatte sich in den Dörfern schon zuvor verbreitet. Spätestens nach der Pressekonferenz packen aber tausende Touristen sofort ihre Koffer und verlassen das Skigebiet im Paznauntal überfallsartig. Saisonarbeitern und Einheimischen war die Ausreise ja laut Aussagen des Bundeskanzlers untersagt.

Chaotische Szenen bei der Ausreise aus Ischgl im Februar. Auch die Polizei war überrumpelt.
Foto: APA / Jakob Gruber

Mit dieser Maßnahme hatte die Bezirksbehörde offenbar nicht gerechnet. Es war wenig bis nichts vorbereitet für eine geordnete Ausreise – sowohl personell als auch logistisch. Der Grund dafür dürfte offenbar sein, dass man den Tag eigentlich nutzen wollte, um das Ausreisemanagement auf Schiene zu bringen, wie der zuständige Bezirkshauptmann laut dem Bericht zu Protokoll gab. Urlauberwechsel finde meist an Samstagen statt, "und wir wollten, dass am Samstag keine neuen Gäste mehr kommen und die alten Gäste ausreisen".

Nutzlose Checkpoints

So standen an diesem Freitagnachmittag Polizisten an den Checkpoints. Zwar wurde seitens der Touristen per "Ausreiseschein" bestätigt, unverzüglich und ohne Zwischenhalt die Heimreise anzutreten. Ein Teil der mehr oder weniger freiwillig ausreisenden Gäste – nicht wenige berichten, von ihren Hotels und Pensionen unsanft auswaggoniert worden zu sein – trug aber dennoch zur Verbreitung in Tirol bei, weil viele erst Flüge an den darauffolgenden Tagen hatten. Sie mussten sich in Innsbruck Hotelzimmer suchen und sorgten dadurch für zahlreiche Infektionen.

Quarantäne? Fehlanzeige

An die zur Bekämpfung der Pandemie unerlässliche Quarantäne habe zu diesem Zeitpunkt niemand gedacht. Im Gegenteil. Die Bezirkshauptmannschaft wollte die notwendige Verordnung am Samstag erlassen und mit dem "Ausreisemanagement" beginnen – inklusive Checkpoints und Gästeausreiseblätter. Eine Quarantäne sei in der Planung des Landeseinsatzkommandos bis zum frühen Freitagvormittag nicht vorgesehen gewesen, zitiert "Profil" aus einer Stellungnahme des Landes Tirol.

Die erdachte Choreografie wurde demnach von der Bundesregierung empfindlich gestört, obwohl die für Verordnungen und Durchführung zuständigen Behörden in Tirol sind. Der Ankündigung des Bundeskanzlers hätte man sich schwer widersetzen können, rechtfertigte auch der stellvertretende Bezirkshauptmann von Landeck, Siegmund Geiger, die sich überstürzenden Ereignisse. Eine Verordnung oder Anweisung des Gesundheitsministeriums sei nicht vorgelegen, räumte der für Verordnungen und Erlässe formal zuständige Bezirkshauptmann Markus Maaß auf die Frage der Expertenkommission ein.

Dass die Aussagen des Bundeskanzlers bezüglich der Quarantäne zum Zeitpunkt der Pressekonferenz aber noch nicht rechtlich gedeckt gewesen sein dürften, machte den Sachverhalt umso kurioser. Die tatsächliche Quarantäneverordnung wurde schließlich in den Abendstunden des 13. März, gegen 19 Uhr ausgehängt und damit rechtsaktiv.

Chaos vermeiden

Wer nun für das Chaos verantwortlich ist, das zur Verbreitung von gut 11.000 Covid-19-Infizierten in ganz Europa führte? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Das Kanzleramt sagt, man habe die kurzfristige Bekanntgabe der Maßnahme mit den Tiroler Behörden vereinbart, um Chaos zu vermeiden. Zur überfallsartigen Verkündigung samt Verhängung der Quarantäne habe es auch keine Alternative gegeben.

Vonseiten der Tiroler Behörden wiederum heißt es, es habe nicht einmal ausreichend Polizisten für die Checkpoints gegeben. Erst am Freitagabend hätten die von der Landespolizei in Innsbruck angeforderten Polizeischüler kommen sollen. (ung, faso, 9.10.2020)