Die Performerin hüllt sich nicht nur in ein Fettnetz wie in eine Toga. Sie lässt sich bei der Produktion "Oracle and Sacrifice" – symbolisch – auch von einem Herzen nahezu erdrücken.

Eva Würdinger

Das meiste Getier hat den Vorteil, dass es äußerst essbar ist. Das Konzept der Natur lautet ja: Leben hat für Leben einen Nährwert, auch der Mensch. Er reagiert jedoch beleidigt, wenn ihm etwas an die Innereien will. Der Homo sapiens vergönnt sich keinem anderen Wesen als Nahrung, dem eigenen Gusto indes opfert er alles, dessen er habhaft werden kann: gedünstet, gebraten, geschmort oder geröstet, seltener auch roh.

Claudia Bosse, Herz und Hirn des Wiener Theatercombinats, hat gerade im Tanzquartier Wien ein choreografisches Performance-Solo vorgestellt, in dem sie der organischen Existenz zwischen Orakel und Opfer ins Kulturgedärm nachkriecht. Eine Kochshow ist das nicht. Und auch Fans der fleischfreien Küche finden in Oracle and Sacrifice 1 – oder die Evakuierung der Gegenwart keine moralische Stütze.

In Silbershirt und Glitzershorts serviert Bosse eine Innereienschau, die sie als "Orgie der Vergangenheit mit der Zukunft" und überhaupt aller Zeiten inklusive der Vorzukunft deklariert.

Zum ersten Mal in der Geschichte des 1996 gegründeten und der radikalen Aufklärung verschriebenen Theatercombinats entsteht im Lauf dieses Stücks der Eindruck, dass Bosse ihr Publikum nicht nur mitnimmt, sondern auch auf die Schaufel nimmt: "Ihr seid so vielfältig."

Auf der Bühne kreist ein Herz, wird eine echte Lunge künstlich beatmet, sodass sie mit den Flügeln schlägt. Die Performerin hüllt sich in ein Fettnetz wie in eine Toga. Das ist kein Vergleich mit, aber doch eine Erinnerung an Jana Sterbaks berühmtes Fleischkleid (Vanitas, 1987), das auch Popsängerin Lady Gaga kopiert hat. Auch Bosse rührt mit ihren Echtfleischstücken am Vergänglichkeitsmotiv. Mehr aber noch am Thema Verunsicherung: "Ich bin euer Schatten, der die Leere erkundet."

Voll, aber verlassen

Die Ödnis der Konsumreligion: So vollgestopft wir auch sein mögen, die postmoderne Unübersichtlichkeit bewirkt Gefühle des Verlassenseins. Gegen solch ein Unbehagen helfen weder Spaßzwang noch Konsolensport.

Aber vielleicht ein paar Opfergaben? Hat sich nicht auch der gute Sohn "Schweizerkas" Fejos von Bertolt Brechts Mutter Courage geopfert? Bosse lässt einen jungen Mann bei sich auf der Bühne auftreten. Auf seinem Körper opfert sie erst Eier, dann baut der "Sohn" sich selbst hinter einem Mikrofon auf. Er sei das Opfer, ruft er in einen digitalen Stimmverzerrer: "Lies meine Leber, ich bin dein Orakel!" Das ist gut gezielt, denn das Orakeln feiert Konjunktur, wenn sich wie heute allüberall die Zukunftsaussichten eintrüben.

Dafür musste bereits bei den alten Babyloniern häufig ein Schaf über die Klinge springen für die damals beliebt gewesene Leberschau. Dabei sollte sich die Zukunft als Zeichen zeigen. Heute sind die Lebern elektronisch wie die Stimmumwandler in Bosses Stück, und die Hieromantie (Leberschau) nennt sich jetzt Data-Mining.

Claudia Bosse zeigt, dass unsere Organe so flüchtig werden wie unsere Prognosen: Ein großes Herz gibt es nur noch aus aufgeblasenem, weißem Plastik. Die Fortsetzung dieses gelungenen "Oracle and Sacrifice" ist bereits organisiert. Es wird nächsten Sommer draußen im Wald stattfinden. (Helmut Ploebst, 12.10.2020)