Hans Neuenfels über Mozarts Obsession: "Die Liebe wird von ihm als Begriff vollkommen analysiert, in endlosen Zeilen und Arien variiert und intensiviert, verschoben und manchmal in Verzweiflung negiert."

Monika Rittershaus

Als Interpret und also als Regisseur müsse man zuerst einmal versuchen, "den Hauptpunkt eines Stücks zu erfassen", sagt der deutsche Regisseur Hans Neuenfels. Bei Mozart – und auch bei dessen Oper Entführung aus dem Serail, die Neuenfels an die Wiener Staatsoper in seiner Version aus dem Jahre 1998 bringt – sei eben das Hauptthema die Liebe; im Allgemeinen aber immer auch der Tod. Ein Irrtum sei es, Mozart "in gesellschaftliche oder religiöse Fragen stürzen" zu wollen. Das seien beim Komponisten der Wiener Klassik Nebenpunkte, so der Regisseur.

STANDARD: Sie haben diese "Entführung" bereits 1998 erarbeitet ...

Neuenfels: Da war ich bereits 57, die Arbeit wurde kurz vor Weihnachten unterbrochen, und ich habe zu meiner Frau gesagt: Ich werde für zumindest 14 Tage weg sein. Hätte ich bis dahin nicht das Gefühl gehabt, den Punkt getroffen zu haben, hätte ich meine Arbeit rücksichtslos weggeworfen. Ich war hundertprozentig entschlossen, aufs Ganze zu gehen – es entweder für mich zu schaffen oder es zu lassen.

STANDARD: Also eh wie immer!

Neuenfels: Na ja – ich habe ja sehr viel inszeniert, auch im Schauspiel. Da ist es mir schon passiert, dass mir ein Stück entglitten ist und ich trotzdem weitergemacht habe. Wobei es vielleicht Versuche waren, die gewisse Qualitäten hatten: Nachtasyl von Maxim Gorki etwa oder Der Balkon von Jean Genet, bei dem ich später im Film versucht habe, das aufzufangen, was ich im Theater nicht geschafft hatte.

Das waren schwierige Unternehmungen. Es ist viel auf der Strecke geblieben, bis ich zu den Arbeiten gekommen bin, die ich als gut empfinde, wie diese Entführung. Diese Arbeit würde ich als mit mir identisch bezeichnen, deshalb ergibt es für mich Sinn, sie nun noch einmal zu machen.

STANDARD: Woran erkennen Sie selbst das Gelingen?

Neuenfels: Es hat auch mit einem bestimmten Klima zu tun, auch während der Probenarbeit jetzt hatte ich ein sehr schönes und intensives Klima – trotz dieser Corona-Affäre. Ich kannte von den Sängern niemanden und von den Schauspielern nur ein paar. Wir haben jetzt, nachdem alle getestet wurden, je nach Stimmung und Empfinden manchmal mit Masken gearbeitet, aber dann auch ohne. Wir haben nicht das Gefühl, darin behindert zu sein, körperliche Prozesse durchzuführen oder einander anzufassen.

STANDARD: Zur "Entführung": Entwickelt sich nicht hier aus dem Thema der Liebe eine weltumspannende und auch gesellschaftliche Perspektive – durch die Vergebung und allgemeine Menschenliebe?

Neuenfels: Ja, aber die Liebe wird zunächst von Mozart als durchgehender Begriff vollkommen analysiert, in endlosen Zeilen und Arien variiert und intensiviert, verschoben, manchmal in Verzweiflung negiert. Als Regisseur muss man sich also bei Mozart fragen, ob man sich für Liebe interessiert. Wenn man dazu nichts zu sagen hat, soll man es besser lassen. Da wäre man bei Mozart, finde ich, falsch.

STANDARD: Und die Liebe wird in Mozarts Musik eigentlich erstmals auch als körperlicher Prozess hörbar: vom Herzklopfen bis zur physischen Intimität. Hat das Konsequenzen für den Umgang mit den Figuren und ihren Beziehungen?

Neuenfels: Es hat auf jeden Fall damit zu tun, dass die Personen im wahrsten Sinn des Wortes sehr bewegt sind. Die physische Existenz macht sich bei Mozart auch im körperlichen Sinn sehr stark bemerkbar. Für ihn ist es ungeheuer wichtig, dass die Noten in der Musik diese Bewegung zeigen. Es flirrt, es schwillt, es ist nie statisch, es ist wechselhaft. Es ist auch sehr wichtig, Gegenstände in die Hand zu nehmen und sie hin und her zu wenden. Das ist ein sehr sinnliches Unternehmen im Detail.

STANDARD: Was hat eigentlich die doppelte Besetzung der Rollen – jeweils ein Sänger und ein Schauspieler für ein und dieselbe Rolle – mit dem Thema des Stücks zu tun?

Neuenfels: Es ist insofern eine zeitgenössische Geschichte, als wir mehr denn je unter der Bedrücktheit der Fremdheitsempfindung stehen. Man ist ja nicht nur jemand anderem fremd, sondern man ist auch sich selbst fremd. Es sind Identifikationsprobleme, die der Fremde auslöst, und deswegen lässt die doppelte Besetzung auch diese Entfremdung spüren.

STANDARD: Kennen Sie eine solche Fremdheitserfahrung auch gegenüber Stücken, mit denen Sie sich auseinandersetzen?

Neuenfels: Es ist gerade eine Qualität, dass es eines Sprungs bedarf. Zu manchen Stücken habe ich nie einen Zugang gefunden. Manchmal glaubte ich auch, einem Stück nahezukommen, aber ich kam ihm gar nicht nah. Das ist oft ein Risiko. Manchmal hatte ich so furchtbare Augenblicke, wenn ich das erst in der Premiere erkannt habe, dass ich das Stück vollkommen verfehlt hatte. Aber erst da – das war ganz schlimm. Aber das gibt’s. Wenn man so alt geworden ist wie ich, hat man wenigstens das Glück, einen Überblick über das zu haben, was man alles gemacht hat, und auch auf das zurückzublicken, was geglückt ist. Da bleibt zumindest etwas, was ich selbst gut finde – aber nicht sehr viel.

STANDARD: Über viele Ihrer Arbeiten hat sich das Publikum echauffiert. Hat die Bereitschaft zur Aufregung auch aus Ihrer Sicht abgenommen?

Neuenfels: Ja, die ist geringer geworden. Das Theater ist wohl etwas aus dem Brennpunkt des Interesses getreten. Ich weiß auch nicht warum. Die Häuser sind ja gut besucht, aber es wird oft zu schnell und zu viel produziert, die Probenzeit wird immer kürzer – das ist irre. So entsteht immer weniger, das länger haften bleibt. Und durch Corona entsteht noch mehr Zweifelhaftes, es purzeln sämtliche Kriterien noch mehr durcheinander – Hauptsache, es findet überhaupt etwas statt. Manchmal fragt man sich, ob man es überhaupt sehen muss. Eine auf einige wenige Instrumente abgemagerte Mahler-Symphonie muss ich nicht hören. Auch eine auf zwei Stunden ausgedünnte Mozart-Oper wie Così fan tutte finde ich blödsinnig. (Daniel Ender, 12.10.2020)