Europa sollte die Bürger zusammenbringen. Eigentlich. Doch in zentralen Fragen wie der Aufnahme von Flüchtlingen bleibt der Diskurs je nach Land sehr unterschiedlich. In Frankreich weckt der Begriff der "unbegleiteten Minderjährigen" zum Beispiel ganz andere Assoziationen als in deutschsprachigen Ländern, wo man in dem Zusammenhang zuerst an Migranten denkt.

Mit "nineurs isolés" (isolierten Minderjährigen) meint man in Paris vielmehr Jugendliche aus Algerien und vor allem aus Marokko, von denen etliche seit etwa drei Jahren die französische Hauptstadt unsicher machen. Diese zumeist verwahrlosten und obdachlosen Jugendlichen werden von Schleppern ins Pariser Immigrantenviertel La Goutte d'Or gebracht und für organisierte Diebstähle eingesetzt. Deren 10.000 wurden 2019 festgenommen – kamen wegen ihrer Minderjährigkeit aber meist sehr schnell wieder auf freien Fuß.

Mafiabanden

Die Einwohner von Paris sind nicht gut zu sprechen auf die "isolierten Minderjährigen", diese sind oft selber im Griff von Mafiabanden, die sie – meist mit dem Medikament Rivotril – systematisch drogenabhängig machen.

Des Öfteren werden die jungen Migranten auch mit Terrorismus in Verbindung gebracht, was aber fragwürdig ist, wie der jüngste Anschlag auf das frühere Redaktionsgebäude des Satiremagazins "Charlie Hebdo" zeigt: Der pakistanische Messerattentäter gab nach seiner Festnahme vor wenigen Tagen an, er sei 18 Jahre alt und als Minderjähriger nach Frankreich gekommen; laut den bei ihm gefundenen Dokumenten ist er jedoch bereits 25 Jahre alt.

Ende September wurde in Frankreich für die Aufnahme von Flüchtlingen demonstriert. Doch Frankreichs Regierung entschloss sich erst nach Absprache mit Deutschland, 350 Jugendliche aus Lesbos aufzunehmen.
Foto: imago images/Hans Lucas

Minderjährige Migranten haben es deshalb im öffentlichen Diskurs schwer. Das zeigte sich auch in der französischen Reaktion auf den Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria: Die Pariser Medien verschliefen ihn zuerst schlicht, um später eher distanziert darüber zu berichten. Erst nach Absprache mit Deutschland entschloss sich Präsident Emmanuel Macron, 350 Jugendliche aus Lesbos aufzunehmen.

Nur wenig Großzügigkeit

Der Migrationsexperte Yves Pascouau führt diese wenig generöse Haltung darauf zurück, dass in Frankreich "die Angst vor der gesundheitlichen und sozialen Entwicklung steigt". In der Covid-19-Krise, die 800.000 Neuarbeitslose geschaffen habe, dächten die Franzosen mehr als früher an ihre eigene Situation als an die der Flüchtlinge. Die Öffentlichkeit verfolgt relativ unbeteiligt die seit Jahren andauernden, immer wieder tödlichen Versuche von Flüchtlingen, von Calais aus im Schlauchboot nach England überzusetzen, oder auch die wiederkehrende Bildung wilder Zeltlager an der Peripherie von Paris.

Das schlechte Image unbegleiteter junger Migranten rührt wohl auch daher, dass Frankreich 2015 viel weniger Flüchtlinge aufgenommen hat als etwa Deutschland oder Österreich. Die meisten leben isoliert in Aufnahmezentren. Wenige französische Familien nehmen junge Flüchtlinge auf. Die Radiostation RTL berichtete kürzlich verwundert über den Fall des 17-jährigen Afghanen Lateef, dem eine Pariser Familie vor einem Jahr Asyl geboten hatte. Eher unfranzösisch erklärte die Hausbesitzerin Pascale Cohen, die Hausschlüssel habe sie dem Ankömmling schon nach zwei Tagen ausgehändigt. Heute bereitet sich Lateef auf eine Informatikerschule vor.

Solche Medienberichte zeigen den Franzosen immerhin auf, dass nicht alle unbegleiteten Minderjährigen in den Jihad abgleiten. Unlängst stellte die katholische Zeitung "La Croix" sogar die Frage: "Tut Frankreich genug für die Migranten aus Lesbos?" Nur wenig später erklärte der Staatssekretär für europäische Fragen, Clément Beaune, Frankreich werde 150 weitere Minderjährige aus Griechenland aufnehmen. Es tut sich etwas. Vielleicht. (Stefan Brändle aus Paris, 13.10.2020)