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Wien – Ahmad C. (Name geändert, Anm.), 15 Jahre alt, soll ein tschetschenischer Sittenwächter sein, sagt die Staatsanwältin. Und im August in Wien zusammen mit zwei weiteren Burschen einen Gleichaltrigen verprügelt haben, da das Opfer mit einem tschetschenischen Mädchen Kontakt hatte. Eine Konstellation, die dem Schöffengericht unter Vorsitz von Michaela Röggla-Weisz erhebliche mediale Aufmerksamkeit bringt. Die Geschichte ist allerdings komplizierter, als sie scheint.

Drei Anklagepunkte sind es konkret, wegen derer der in Österreich geborene Russe seit sieben Wochen in Untersuchungshaft ist. Er und seine Mittäter sollen versucht haben, den anderen Teenager absichtlich schwer am Körper zu verletzen, ihn auszurauben und ihn dazu zu nötigen, den Kontakt mit dem Mädchen einzustellen. Bis zu fünf Jahre Haft drohen ihm.

Von Dosierungsfähigkeit überzeugter Hobbyboxer

Schuldig bekennt sich der von Wolfgang Blaschitz verteidigte Angeklagte nur in einem Punkt klar: der Körperverletzung. Die sei aber keine versuchte absichtlich schwere gewesen. "Wenn ich ihn schwer verletzen wollen würde, hätte ich es gemacht", erklärt der Hobbyboxer im Brustton der Überzeugung. "Wie?", fragt die Vorsitzende. "Ich hätte stärker zugeschlagen." – "Können Sie das so dosieren?", wundert sich Röggla-Weisz. C. ist überzeugt, dass er das kann.

Was aber war das Motiv, dass der Angeklagte und seine Komplizen, von denen nur die Vornamen bekannt sind, Enes G. mit Fäusten traktierten und ihn traten, als er bereits auf dem Boden lag? "Ausgemacht war, dass ich ihn schlage", gibt C. zu. "Warum?", interessiert die Vorsitzende. "Weil er über unser tschetschenisches Volk gelästert hat." – "Wie?" – "Er hat gesagt, Tschetschenen sind schwache Leute. Und: 'Ich fick sie, wenn sie vor mir stehen.'"

Von einem tschetschenischen Mädchen sei aber nie die Rede gewesen. Er habe G. auch nicht persönlich gekannt – er sei von einem 13 Jahre alten losen Bekannten namens Bakr auf die angebliche "Beleidigung" der Tschetschenen aufmerksam gemacht worden.

13-jähriger Auslöser

Die Zeugeneinvernahme dieses Unmündigen gerät allerdings etwas seltsam. Wie sich herausstellt, hat er nie selbst erlebt, dass G. Tschetschenen verhöhnt oder mit tschetschenischen Mädchen Kontakt gehabt hat. Alles spielte sich mit Alias-Namen im Internet ab, er will nur von einem Dritten ein oder zwei Screenshots bekommen haben. Einer davon offenbarte: "Ich fahre nach Grosny und kläre ein paar Mädchen." – "Was heißt das?", fragt Röggla-Weisz. "Ich weiß nicht", druckst der 13-jährige Zeuge herum. "Dass er Nummern von Mädchen kriegt?", mutmaßt er dann.

Er habe jedenfalls dem Angeklagten davon erzählt, ihm auch die Adresse des Opfers verraten und dieses vor Ort identifiziert. "Sie haben gesagt, sie reden nur mit ihm", behauptet er. Der Angeklagte wiederum sagt, Bakr habe auf Schläge für G. gedrängt, da dieser ihn vor zwei Jahren einmal attackiert habe.

Verletzter kann sich Attacke nicht erklären

Das Opfer, selbst Hobbyboxer, weiß auch nicht wirklich, warum er zu einem solchen wurde. Soweit er sich erinnern könne, sei ihm, als er bereits auf dem Boden lag, gesagt worden, er solle nicht schlecht über Tschetschenen reden. Da er sechs Monate davor tatsächlich Chatkontakt mit einer Tschetschenin gehabt hatte, habe er sich gedacht, dass es darum gegangen sein könnte. Abschätzig geäußert habe er sich über das Volk aus dem Nordkaukasus aber nie, stellt der Österreicher klar. "Ich bin ein Friedlicher und will meine Ruhe haben."

Auch den Raubvorwurf schwächt der Teenager deutlich ab. Ihm sei gesagt worden: "Zeig her, was du in den Taschen hast!" Als er sein Mobiltelefon und seinen Schlüsselbund herausnahm, sei das Trio davongelaufen. Vom Angeklagten will G., der bei dem Angriff eine Rissquetschwunde, Prellungen und blaue Flecken erlitt, 2.000 Euro Schmerzensgeld. C. ist bereit, 200 Euro zu zahlen.

Flucht vor Trio als Wahrheitsbeweis

Dem männlichen Schöffen ist an der ganze Sache etwas grundsätzlich unklar. "Wieso machen Sie das?", fragt er daher den Angeklagten. "Einer, den Sie eigentlich nur aus dem Internet kennen, kontaktiert Sie und behauptet, einer, den Sie überhaupt nicht kennen, habe etwas Schlechtes über Tschetschenen gesagt. Und dann verprügeln Sie den Unbekannten zu dritt. Haben Sie geprüft, ob der das tatsächlich gesagt hat?" Die überraschende Antwort: "Er ist ja weggelaufen. Wenn mich ein Polizist fragt, ob ich Drogen habe, und ich laufe weg, ist das ja auch verdächtig", argumentiert der 15-jährige Angeklagte.

Nach 20 Minuten Beratung entscheidet der Senat, den Raubvorwurf fallenzulassen. Der unbescholtene C. wird wegen versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung und Nötigung – allerdings nicht wegen des Mädchens, sondern wegen der Verunglimpfung der Tschetschenen – zu zwölf Monaten Haft verurteilt, eines davon ist unbedingt. Zusätzlich muss er Bewährungshilfe in Anspruch nehmen und bekommt eine Therapieweisung, dem Verletzten muss er 200 Euro zahlen. Da die Anklägerin keine Erklärung abgibt, ist die Entscheidung nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 12.10.2020)