Natürlich ist das Alleinsein nicht automatisch mit Einsamkeit verbunden. Traurig kann man aber schon einmal werden.

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Der Trend zum Alleinleben mag zwar kein neuer sein, immerhin aber hat er jetzt einen Namen. Dank eines vor drei Jahren in Südkorea erstmals aufgetauchten Hashtags nennt sich das Lebensmodell "Honjok". Man kann den Begriff mit "Einpersonenstamm" übersetzen. Wenn man bedenkt, dass es in Industrienationen zunehmend schwierig wird, sich ein Leben in einer Beziehung oder mit Familie sowie bezahlbarem Wohnen und kostbarer Freizeit zu leisten, mag das nicht neu sein.

Allerdings wird Honjok nach den USA nun eben auch auf Deutsch verwertet. Die neueste Ratgeberbibel nennt sich Honjok – die Kunst, allein zu leben und stammt von Crystal Tai und Francie Healey (Ullstein-Verlag). Als Coaches und Trendscouts weisen sie natürlich auf den Unterschied von allein und einsam hin.

Diesbezüglicher Pessismismus wäre auch schlecht für das Geschäft. Immerhin kommt man mit Honjok als Chance, sich selbst sowie Erfüllung zu finden, einer Netflix-Serie in der Nähe von Wohnungsentrümpelungen zum Glück wesentlich näher als mit Schwarzmalerei. Wer lang allein ist, kennt ja nicht nur bald die Streamingdienste auswendig, sondern kann auch in die Gefahr geraten, schrullig bis depressiv zu werden.

Synchrontanzballett

Kurz gesagt, immer mehr Menschen wohnen und leben allein. Auch der "Westen" begünstigt selbst bei seinen derzeit noch vorhandenen sozialen Auffangsystemen offenbar diesen gewollten oder ungewollten Lebensstil. Mittlerweile geht man davon aus, dass gut in einem Drittel aller Haushalte niemand auf einen wartet, wenn man nach Hause kommt.

Korea als Mutterland des längst etwa auch im benachbarten Japan zelebrierten Honjok mag politisch gesehen ein zweigeteiltes Land sein. Zwischen kommunistischem Dauer-Lockdown im Norden und entfesseltem Kapitalismus im Süden besteht allerdings eine Gemeinsamkeit, die sich nicht wegleugnen lässt. Der gesellschaftliche Druck, bis ins Privatleben hinein zahllose Normen möglichst perfekt zu erfüllen, führt im Norden nicht nur zum staatlich verordneten Synchrontanz- und Militärparadenballett.

Schmuckeremiten

Wie man im Süden spätestens seit dem K-Pop-Phänomen mit seinen bis zur Austauschbarkeit industriell gefertigten Retortenstars als Sinnbild einer kapitalistischen Hochleistungsgesellschaft sieht, verfolgen beide Gesellschaftssysteme nicht unbedingt das Ziel der Selbstverwirklichung in einer Gemeinschaft. Tod durch Arbeit!

Das historische Einsiedlertum oder der vor allem im England des 18. und 19. Jahrhunderts in Mode gewesene Berufszweig des Schmuckeremiten in den Landschaftsparks des Adels sind weit von heutigen Realitäten entfernt. Allein die absurden Preise für winzigste Wohnungen sprechen gegen früher schon in jungen Jahren geschlossene Ehen, die Gründung einer Familie und das traditionelle asiatische Lebensmodell. Dazu kommen Leistungsdruck bis hin zu den höchsten Schülerselbstmordraten der Welt und Arbeitszeiten, die teilweise ein Feldbett im Büro nahelegen.

Dies alles führt letztlich dazu, dass man es heute mit einer Generation von Endzwanzigern und Frühdreißigern zu tun hat, die noch nie in ihrem Leben eine Liebesbeziehung eingehen konnten oder wollten. Wann denn auch? Überhaupt gestalten sich sämtliche Sozialkontakte etwas schwierig.

Hochzeit allein

Das führt natürlich – neben der Kunst, allein zu leben, zu essen, zu reisen und zu schlafen – zu interessanten popkulturellen Erscheinungen wie der auch erotische Bedürfnisse von Erwachsenen abdeckenden Manga-Szene. Es gibt Stundenhotels, in denen man sich junge Frauen oder "Schulmädchen" tatsächlich auch zum Reden mieten kann. Es gibt Männer, die für Geld Frauen gegenüber den besten Freund zum Spazierengehen geben. Man lernt so auch für den eventuell eintretenden Ernstfall einer richtigen Beziehung.

Lebensechte Sexpuppen nach Maß boomen ebenso wie das Phänomen der "Hochzeit allein" speziell für Frauen. Hier wird etwa ein Rundumservice mit eigens angefertigtem Hochzeitskleid, Fotograf, Limousine, Trauungszeremonie und Festbankett für eine Person geboten. Das Angebot, einen Ehemann auf Zeit beizustellen, wird in den meisten Fällen abgelehnt. "I’m dancing with myself!" (Billy Idol)

Akt des Feminismus

Speziell koreanische Frauen deuten Honjok aber auch als Akt des Feminismus. Damit entkommen sie vor allem auch dem Druck von Familie und traditionell eine Partnerschaft dominierenden Männern. Eine westliche Studie besagt übrigens, dass nur wer gut allein leben kann, eine gute Beziehung mit einem Partner führen kann. Allerdings neigt auch der Westen zunehmend zur Einsamkeit allein. (Christian Schachinger, 13.10.2020)