Am Wahlabend brachten nur die Scheinwerfer Michael Ludwig ins Schwitzen, schließlich gab es in Prozenten einen Zugewinn zu bejubeln.

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Doch 73.000 Bürger gingen lieber gar nicht wählen, statt noch einmal SPÖ anzukreuzen.

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Sie sind, wenn man so will, die stärkste Partei der Stadt: Über 400.000 wahlberechtigte Wiener verzichteten am Sonntag darauf, ihre Stimme abzugeben. Die Gruppe der Nichtwähler überflügelte damit erstmals auch die SPÖ, die als Siegerin laut Hochrechnung des Sora-Instituts auf etwa 300.000 Stimmen kam. Die Wahlbeteiligung dürfte somit von 74,7 auf unter 65 Prozent gefallen sein.

Reflexartig drängt sich da eine Erklärung auf: Die Corona-Pandemie habe wohl gerade viele ältere Bürger davon abgehalten, sich im Wahllokal anzustellen. Doch stimmt diese These? Christoph Hofinger winkt ab. Der Sora-Meinungsforscher sieht schwerwiegendere Ursachen als das grassierende Virus: "Corona war vielleicht das Tüpfelchen auf dem i."

Flucht von Rot und Blau

Ein genauer Blick auf das Ergebnis zeigt, dass sich die Neo-Nichtwähler nach Herkunft höchst ungleich auf die verschiedenen Lager verteilen. Während die mit einer bürgerlichen Wählerschaft ausgestatteten Parteien ÖVP, Grüne und Neos nur einen vernachlässigbaren Anteil auf diese Weise einbüßten, übten sich rote und blaue Wähler von 2015 am Sonntag in massenhaftem Verzicht. Die SPÖ verlor 73.000 Stimmen, die FPÖ gleich 101.000.

In letzterem Fall liegen die Gründe auf der Hand. Mit Ibiza-Skandal und Spesenaffäre haben sich die Freiheitlichen auch bei Anhängern unmöglich gemacht. Für viele davon waren die roten und türkisen Alternativen offenbar nicht verlockend genug.

Zu wenige Genossen hervorgeholt

Die Wiener SPÖ ist weder mit Skandalen noch mit Selbstzerfleischung aufgefallen. Doch anders als 2015, als das beschworene Duell um Platz eins mit der FPÖ "noch den letzten Genossen hinter dem Ofen hervorgeholt hat", fehlte diesmal der taktische Mobilisierungsschub, sagt Hofinger im STANDARD-Gespräch. Auch inhaltlich habe der rote "Wohlfühlwahlkampf" wenig geliefert, was Emotionen schüre – ganz anders als Hans Peter Doskozil, dem dies im Burgenland mit der Pflegefrage gelungen sei. Michael Ludwig habe sich Profil erarbeitet, keine Fehler gemacht und ein solides Ergebnis abgeholt, bilanziert der Demoskop: "Letztlich ist die Wiener SPÖ aber unter ihren Möglichkeiten geblieben."

Noch ein Faktor, der den Exodus aus dem roten und blauen Lager begünstigt: Generell kursiert in der Arbeiterschaft das Gefühl, dass Politik und Gesetze stärker die Interessen der mit höherer Bildung und üppigerem Einkommen gesegneten Eliten berücksichtigen – was ja auch nicht ganz von der Hand zu weisen sei, wie Hofinger anmerkt. Warum dann überhaupt noch wählen gehen?

485.000 Ausgeschlossene

Ein anderer großer Teil dieser Gruppe darf hingegen gar nicht zu den Urnen schreiten. Rund 485.000 Wienern bleibt das Wahlrecht für den Gemeinderat versagt, weil sie keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Eine Auswertung von APA und OGM vor der Wahl hat gezeigt, dass in manchen Vierteln jeder zweite Bewohner aus diesem Grund nicht wählen darf.

Andere Bürger werden im Gemeinderat nicht repräsentiert, obwohl sie ins Wahllokal gepilgert sind. Zehntausende Wiener – bei allen Zahlen handelt es sich um Schätzungen auf Basis einer Sora-Hochrechnung – haben ihre Stimmen an Parteien vergeben, die an der Fünfprozenthürde für den Einzug in die Volksvertretung gescheitert sind. (Gerald John, 12.10.2020)