Zweimal Konstanze und der ihr verfallene Bassa Selim (Christian Nickel).

Foto: Pöhn

Das Phänomen der Nächstenliebe erfährt an der Wiener Staatsoper fortan eine interessante, leicht narzisstische Auslegung: "Beruhig dich bitte, Belmonte", fleht Belmonte II sein Gegenüber, Belmonte I, an. Letzterer sorgt sich um die Existenz seiner Konstanze. Die Beruhigungsworte seines Alter Ego nimmt Belmonte I zwar leicht genervt, aber mit "Danke, Belmonte!" an. Ja, bei aller Selbstverliebtheit: Bisweilen nervt einen die eigene innere Stimme ein bisschen.

Die Sorgendame seines Herzens, Konstanze, ist tatsächlich in gewaltigen Nöten. Jedoch – wie Belmonte – ebenfalls nicht allein. Die singende und die sprechende Konstanze durchleben als Duo Momente emotionalen Zwiespalts und der Todesnähe.

In Sprache gefangen

Bassa Selim, in dessen Harem dem Konstanze-Tandem eine Sonderstellung in Aussicht gestellt wird, umgarnt die Dame(n) heftig. Von romantisch hauchendem Liebesflehen bis zu polternder Drohgebärde reicht Bassas Überzeugungsrepertoire, das er – von einem Doppelgänger unbelästigt – abspulen darf. Der Bassa hat ja keine Töne, obwohl er gerne welche hätte. Er ist in der Sprache gefangen, kann sich mit keinem zweiten Bassa austauschen.

Da hat es Diener Pedrillo (singend Michael Laurenz, sprechend Ludwig Blochberger) leichter, seelisches Gleichgewicht zu finden. Vergisst er eine Phrase, wird eben der alternative Pedrillo zum rettenden Souffleur. Gottlob muss Pedrillo nicht mitansehen, wie seine Blonde sich der Übergriffe Osmins (solide singend Goran Jurić) erwehren muss, während dessen sprechender Doppelgänger (Andreas Grötzinger) vergeblich mit Liegestützen (auf einer Hand) zu beeindrucken versucht.

Etwas plump

Zweifellos: Bei der Figur des Osmin, der Frauenköpfe und Gliedmaßen sammelt, hat sich Regisseur Hans Neuenfels einen grellen Scherz erlaubt, der ein bisschen plump daherkommt. Sein Kunstgriff, die Verdopplung der Figuren, wirkt allerdings wie eine Zauberquelle szenischer Energie: Die originelle Neudefinition von Zweisamkeit bietet die Möglichkeit zur pantomimischen Ausdehnung der Figuren. Auch lässt sich die inhaltliche Rückseite der Gesänge erhellen, indem verborgene Aspekte der Charaktere schauspielerisch deutlich werden.

Und natürlich führt die Doppelstrategie zur Verselbstständigung von szenischen Pointen, die Neuenfels virtuos und verspielt ins Licht des Skurrilen und Absurden führt. Der Altmeister behandelt eine Figur quasi als musikalisches Thema, das er mit der Figur des Doppelgängers variiert. Das wirkt dann als zweistimmiger Kontrapunkt, der sich in größeren Szenen zum raffiniert choreografierten vielstimmigen szenischen Fugato weitet. Die Arbeitsteilung der Doppelgänger ist also kein aufgesetzter Runnig Gag. Er ist Energiequelle einer Abhandlung über extreme Emotionen, ein szenischer Essay über Zweisamkeit, der sich die eine oder andere frei assoziierte Fußnote gönnt. Geschenkt.

Musik kommt zu sich

Nichts führt jedoch zur Zersplitterung des Singspiels, dem Neuenfels in dieser von 1998 stammenden Version auch mit Eingriffen in den Dialogtext mehr Dichte und Gegenwartsnähe verliehen hat. Zweifellos wird dafür gesorgt, dass das Musiktheater ideal zu sich selbst kommt: Wenn Schauspielerin Emanuela von Frankenberg als Konstanze "Sing, Konstanze, sing!" fleht, schwingt sich Lisette Oropesa wieder einmal in Regionen besonderer Unmittelbarkeit auf. Trotz eines leicht flatternden Wesenszugs ihrer Stimme gelingen der Hausdebütantin (als Konstanze) Momente immenser vokaler Präsenz.

Nur kleine Unsauberkeiten

Auch sonst im Serail, das einer Bühne in der Bühne gleicht (Christian Schmidt), hohes vokales Niveau: Regula Mühlemann berückt als Blonde – bis auf kleine Unsauberkeiten – mit elegantem tragfähigen Sopran (Stella Roberts ist ihr schauspielendes Gegenüber). Und auch Daniel Behle kann seinen Tenor als Belmonte (sein Gegenüber ist Schauspieler Christian Natter) kantabel einbringen.

Hätte Dirigent Antonello Manacorda da und dort vom hohen Tempo etwas mehr auf Entschleunigung umgeschaltet, es wäre vokal womöglich noch mehr Lyrik hörbar geworden. Mit dem Staatsopernorchester gelingt ihm jedoch eine muntere, pathosfrei angelegte, in sich stimmige Gangart.

Bassa Selim aber hat das letzte Wort. Der Herrscher ohne Töne möchte ein Gedicht von Eduard Mörike vortragen. Christian Nickel tut es sanft – nach Einzelprotest aus dem Publikum ("Das gehört nicht dazu!") ...

Hier kündigten sich schon die Buhs an, die Neuenfels (nebst Begeisterung) erreichen sollten. Sie zeigen: Es ist schmerzhaft, das Haus auch nur mit zeitlos origineller Regiehistorie zu konfrontieren, deren Spuren man in neueren Arbeiten, etwa von Claus Guth oder Christof Loy, spürt. Umso nötiger ist solch eine Wiener Repertoireauffrischung. (Ljubiša Tošić, 13.10.2020)