Thomas Hettche, poeta doctus: Seine Mentalitätsgeschichte der jungen Bundesrepublik wäre ebenfalls preiswürdig gewesen.

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Auf den ersten Blick liegt Augsburg, die Fugger-Stadt am Lech, ganz auf der sicheren Seite. Bertolt Brechts Geburtsort strotzt förmlich vor elementarem Wirklichkeitssinn. Doch der Schein trügt. Im Foyer der weltberühmten Augsburger Puppenkiste befindet sich eine Geheimtüre. Wer diese aufstößt, landet ohne Umschweife in einer sparsam ausgeleuchteten Dachbodenwelt. In dieser tummeln sich waschechte Lummerländer wie Jim Knopf oder das Urmel. Genauso trifft man aber auch auf Saint-Exupérys esoterisch verhaltensauffälligen Kleinen Prinzen – oder einen wahrhaft dämonischen Kasperl.

In Thomas Hettches verstiegen gekreuztem Doppelroman Herzfaden leben die Marionetten unbemerkt unter uns. Sobald sie an den Fäden der Spieler zappeln, entpuppt sich ihr Élan vital als absolut unwiderstehlich. Während Augsburg immer tiefer im Nazi-Sumpf versinkt, wächst den geschnitzten Puppen eine gleichsam "metaphysische" Rolle zu. Durch ihr Spiel entlasten sie die Menschen aus Fleisch und Blut, die sich schuldhaft verstricken, aber zugleich auch unermessliches Leid erfahren.

Hettche schmiegt sich im Präsens hautnah an die beiden Puppenkisten-Gründer: Walter Oehmichen, Oberspielleiter im Stadttheater, kehrt dem gleichgeschalteten Bühnenbetrieb noch vor Kriegsende (halbherzig) den Rücken. Er und seine jüngere Tochter Hannelore ("Hatü") schnitzen fortan Figuren. Sie lassen die Marionetten, vorerst in einem "Puppenschrein", tanzen.

Von allen Fäden ist der (unsichtbare) "Herzfaden" der unbedingt ausschlaggebende. Er allein stellt die Verbindung zum empfänglichen Gemüt des Zuschauers her. Die Grazie aber, das wusste bereits Heinrich von Kleist, beruht auf einer Art von Natürlich-Werdung höherer Ordnung: durch Vergeistigung.

Grazie und Geschmeidigkeit muss man Hettches Buch konzedieren. Der Leser wird mit der Nase auf Kindheit und Jugend der unsentimentalen, zähen "Hatü" gestoßen. Er durchmisst an der Seite der Puppenkisten-Co-Fabrikantin den Krieg wie im Fluge: die Lehrjahre einer geplagten Generation.

Gestandene Altnazis

Von mangelnder Wahrnehmungsschärfe handelt Hettche; obendrein von der Kontinuität, mit der gestandene Altnazis sich energisch am "Wiederaufbau" beteiligten. Das Spiel der Marionetten reißt die Bundesrepublikaner aus der allzu trüben Nachbetrachtung ihrer eigenen, schuldhaften Verstrickung: Aus solchen Ambivalenzen besteht Hettches Roman, der auf der Erzähloberfläche häufig so tut, als wolle er das Wässerchen nicht auch noch trüben.

Die Entstehung der Augsburger Puppenkiste wird, was man eine "Erfolgsgeschichte" nennt. Puppen, mit wahrer Engelsgeduld glattpoliert, dürfen anstelle der Menschen über das Böse nachsinnen. Während man die ersten Nachkriegsmoden studiert und in den lokalen Vergnügungslokalen der US-Besatzer Jazz-Saxofonisten lauscht, die "besser" spielen sollen als Lester Young (was allein schon extrem unglaubwürdig erscheint!), verflüchtigen sich die Spuren von Qual und Verfolgung, die gerade auch Augsburgs Juden durch den NS-Terror erlitten haben.

In Herzfaden glimmt der Schuldzusammenhang relativ früh im Roman auf und verschwindet wieder. Ob die Verlagerung auf die Ebene des pädagogisch wertvollen Puppenspiels nicht gerade das Dilemma von moralisch entlastender Kulturarbeit beschreibt, lässt der Autor – seit Ludwig muss sterben (1989) ein Poeta doctus von Graden – offen.

Dröhnende Stille

Die Stille dröhnt und wird, in einer romantischen Volte, durch die Rahmenerzählung vom Mädchen, das die zum Leben erwachten Puppen auf dem Dachboden besucht, auf eine höhere Ebene gehievt. Hier, und nur hier, dürfen sich die Marionetten von ihrer unschönen Seite zeigen. Der Rest ist Ideologie: "Marionetten aber haben kein Blut. Ihr Theater hat die Farbe des Himmels."

Hettche (55), auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, den nun doch Anne Weber gewonnen hat, besitzt die Gabe, es seinen hölzernen Freunden gleichzutun. Sein wunderbar gelungener "historischer" Roman dementiert die Schwerkraft, aber nur, um ihre zerstörerische Wirkung besser zu demonstrieren. Roman aus, Kiste zu. Und die Frage nach der Lügenhaftigkeit bleibt offen. (Ronald Pohl, 14.10.2020)