Ist "Dicht" ein Generationenbuch? Nein. Aber der Beweis, dass Stefanie Sargnagel auch in der Langform funktioniert.

Foto: Christian Fischer

Sie ist eine Meisterin der kurzen Form – von Facebook-Einträgen, Aphorismen oder kürzeren Erzählungen. Nach einem Theaterstück, das Anfang des Jahres im Münchner Volkstheater uraufgeführt wurde, legt Stefanie Sargnagel jetzt ihr erstes umfangreicheres Buch vor. Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin erzählt von einer verstrahlten Wiener Jugend (Rowohlt-Verlag). Sie wäre nicht beleidigt, wenn jemand das Buch mit ihrem Leben verwechseln würde, sagt Sargnagel im Gespräch.

STANDARD: Ihr Buch handelt von einer Jugend zwischen Säufern und Schulabbrechern. Im Prolog schreiben Sie, dass Sie eigentlich ein Kunstbuch machen wollten.

Sargnagel: Ich würde nach wie vor gerne ein Kunstbuch machen. Die Geschichte meiner Jugend will ich aber schon seit längerem erzählen. Charaktere, die mich damals geprägt haben, halte ich für sehr erzählenswert.

STANDARD: Sie haben sich das Image der Anarchopoetin aufgebaut. Mit diesem Buch bedienen Sie es wieder. Dabei haben Sie ja mittlerweile eine beinahe bürgerliche Lebensweise.

Sargnagel: Wenn einen das Kulturestablishment aufsaugt und man, statt mit Punks abzuhängen, Kulturjournalisten zum Interview trifft, dann muss man auf die Jugendjahre zurückgreifen, um etwas Aufregendes erzählen zu können. Das eigene Leben wird fad. Die Jugend ist die Zeit, wo man sich verbraucht und an seine Grenzen geht. Ich habe auch schon erste Alterserscheinungen, muss ins Fitnessstudio und mich gut ernähren.

STANDARD: Das Kulturestablishment hat Sie aufgesogen?

Sargnagel: Ja, klar. Alle wollen mir Geld geben, ich muss meine Getränke kaum selbst bezahlen, bekomme dauernd Bücher zugeschickt.

STANDARD: Es fällt Ihnen schwer, mit Hierarchien umzugehen. Wie geht es Ihnen da mit dem Literaturbetrieb?

Sargnagel: Ich habe das Glück, dass ich Narrenfreiheit habe. Mein Schreiben wurde nicht dadurch bekannt, dass ich von einem großen Verlag gepusht wurde, sondern durch das Internet. Mein erster Verlag war ein Indie-Verlag, ich konnte machen, was ich wollte, es wurde gedruckt. Rowohlt redet mir jetzt aber auch nicht groß rein.

STANDARD: Jugenderinnerungen laufen oft nach dem Schema "Sex & Drugs & Rock 'n' Roll" ab. In Ihrem Buch wird Sex beinahe ausgeklammert.

Sargnagel: Mir war wichtig, ein bestimmtes Milieu zu schildern, die kaputten, aber talentierten Leute zu beschreiben, und nicht mich mit meiner Sexualität zu exponieren. Ich fand den Gegensatz zwischen dem stockbürgerlichen Währing und diesen Randfiguren reizvoll.

STANDARD: Wollten Sie mit der Ausklammerung von Sex männliche Erwartungshaltungen durchkreuzen?

Sargnagel: Ja, durchaus. Sexualität kommt im Buch aber durchaus vor, halt in Form männlicher Übergriffigkeit. Als 16-Jährige wird man jeden Tag von komischen Typen angemacht. Ich war aber keine Partyqueen, die von Club zu Club zog, ich hatte eine eher vergeistigte Jugend, habe in angeranzten Wohnungen philosophiert. Da ist Sex schlichtweg nicht so wichtig.

STANDARD: Wie blicken Sie heute auf Ihre doch sehr wilde Jugend?

Sargnagel: Sehr wohlwollend. Es ist normal, dass man mit 16 hippiemäßig verstrahlt ist.

STANDARD: Von Alkoholikern bis zu psychisch Kranken: Wie viel Romantik haben Außenseiterfiguren für Sie?

Sargnagel: Das Nichtfunktionieren, das Schräge hat eine gewisse Faszination. Es ist mir sympathisch, wenn Menschen Karrieremechanismen verweigern. Aber ich wollte es vermeiden, das Außenseitertum im Buch zu stark zu romantisieren, es war mir genauso wichtig, die Schattenseiten zu schildern.

STANDARD: In der Literatur sind Außenseiter ein wichtiger Topos. Wollten Sie sich da einschreiben?

Sargnagel: Gar nicht. Meine Ambition war, eine der für mich prägendsten Personen zu porträtieren, Michi. Den Charme eines Milieus einzufangen. Ich bin keine Literaturwissenschafterin, ich mache Dinge nach Gefühl und Gespür.

STANDARD: Literaturwissenschafter würden sagen, man muss trennen zwischen Ihrer Jugend und der Jugend, die Sie im Buch beschreiben. Wie halten Sie es mit Fiktion und Wirklichkeit?

Sargnagel: Erzählen trägt die Verkürzung, Übertreibung oder Überspitzung in sich. Ich wäre nicht beleidigt, wenn jemand dieses Buch mit meinem Leben verwechselt.

STANDARD: Ihre bevorzugte Form war in der Vergangenheit der Aphorismus. Wie ist es Ihnen mit dem Erzählen in größeren Bögen gegangen?

Sargnagel: Ich bin eine ungeduldige Schreiberin, will zum Punkt kommen. Deswegen liegen mir die Kurzform und der Witz so sehr. Sitzfleisch habe ich nicht viel. Insofern musste ich mich zusammenreißen.

STANDARD: Sie kommen aus einer Arbeiterfamilie. Sozialkritische Aspekte wie zum Beispiel bei einem Édouard Louis stehen bei Ihnen aber kaum im Vordergrund. Warum?

Sargnagel: Meine Herkunft spielt sehr wohl eine Rolle, auch dass man ganz andere Berufschancen hat als jemand aus einer bürgerlichen Familie. Ich wollte diesen Aspekt aber nicht in den Fokus stellen.

STANDARD: Sie machen das mit viel schwarzem Humor. Kommt der bei Ihren Lesern auch an?

Sargnagel: Ich habe oft das Gefühl, dass sich Österreicher viel stärker von meinen Texten provozieren lassen als Deutsche. Ich habe einen längeren Text über das Oktoberfest geschrieben, man würde denken, dass sich da ein paar Leute auf den Schlips getreten gefühlt hätten. Dem war nicht so. In Deutschland verortet man meinen Humor in einer österreichischen Tradition, bei Qualtinger oder Kreisler. Die Österreicher verstehen das oft nicht!

STANDARD: Sie rufen regelmäßig Shitstorms in sozialen Medien hervor.

Sargnagel: Das erstaunt mich immer wieder. Wenn man ein Loch in der Strumpfhose hat oder als Frau ein Dosenbier trinkt, was soll daran provozierend sein? Je bekannter ich wurde, umso stärker rückte mein Geschlecht in den Vordergrund. Es hieß, das ist ja so eine Ekelfeministin, die provoziert mit ihrer Körperlichkeit. Es wurde mir bewusst, wie viel Sexismus es noch gibt.

STANDARD: Ihr Buch erinnert an die Erinnerungsbände von Joachim Meyerhoff. Er hat damit unglaubliche Auflagen erzielt. Pusht der Verlag bereits einen Nachfolgeband? Die Zeit an der Kunstuni würde sich anbieten, sie dürfte turbulent gewesen sein.

Sargnagel: Ich war gar nicht so viel an der Uni, ich habe mehr Zeit bei Michi als in der Klasse verbracht. Dort habe ich mehr gelernt! Ich hatte das Bedürfnis, von meiner Jugend zu erzählen, das ist ein bisschen wie ein Prequel zu meinen Kurztexten. So schnell werde ich keinen neuen Vertrag unterschreiben. Jetzt will ich ernten! (Stephan Hilpold, 19.10.2020)