Grenzen sichern und Menschen schützen – beides ist möglich, so Klaus Schwertner von der Caritas der Erzdiözese Wien. Er ist derzeit vor Ort auf Lesbos. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Migrationsforscher Gerald Knaus: "Die Achillesferse des Migrationspakts".

Gedränge um Wasserhähne in Kara Tepe, jenem Flüchtlingslager, das nach dem Brand im Camp Moria errichtet wurde. Die Zustände sind auch hier katastrophal.
Foto: Imago / Ane Edition / Panagiotis Balaskas

Wer einen Monat nach dem verheerenden Brand in Moria das neue Flüchtlingslager auf Lesbos besucht, könnte sich im ersten Moment leicht täuschen lassen. Seit Sonntag bin ich mit einer Katastrophenhelferin der Caritas Österreich auf der Ägais-Insel unterwegs, um gemeinsam mit unseren Partnern weitere Hilfen zu koordinieren.

Was ich in den vergangenen Tagen erlebt habe, hat mich tief erschüttert. Wenn von offizieller griechischer Seite auch versucht wird, die Lage als entspannt darzustellen, viele humanitäre Organisationen und Freiwillige mit vollem Einsatz versuchen, die Lage für die geflüchteten Menschen menschenwürdiger zu gestalten: Die Situation ist für die Betroffenen noch immer dramatisch, die nächste Katastrophe bereits vorprogrammiert.

Moria 2.0

Unzählige weiße Zelte stehen geordnet am Meeresufer. Mehr Helfer und mehr Sicherheitskräfte sind vor Ort. Auch die Müllabfuhr funktioniert – zumindest vorerst. Aber sieht man genau hin, wird schnell klar, dass hier vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit ein Potemkinsches Dorf errichtet wird: ein Moria 2.0. Adrette Fassaden außen, katastrophale Zustände innen.

Bis heute gibt es keine einzige Dusche im Lager. Die Menschen waschen sich im Meer. Es gibt nur einmal am Tag eine Essensausgabe, einige kochen auf offenem Feuer. Es gibt keine Waschmaschinen, die Elektrizitätsversorgung ist unzureichend, als einzige Toiletten gibt es Chemieklos. Gestern führten heftige Regenschauer erneut dazu, dass viele Zelte weggeblasen wurden und unter Wasser standen. Die Menschen haben bis zuletzt versucht, Sandsäcke zu füllen und Dämme zu errichten. Wie es hier in wenigen Wochen aussehen wird, wenn der Winter Einzug hält, ist völlig offen.

Kapazitätsgrenzen

Hinzu kommt: Die medizinische Versorgung ist völlig unzureichend. Das einzige Krankenhaus der Insel stößt durch Covid-19 schon ohne geflüchtete Menschen an seine Kapazitätsgrenzen. Gerade für chronisch kranke Menschen, Menschen mit Behinderungen, die seit Monaten auf der Insel festhängen, ein verhängnisvoller, gefährlicher Zustand.

Aktuell leben laut UNHCR Griechenland im Camp rund 7800 Menschen, rund 40 Prozent davon sind Kinder. Die 55 Tonnen schwere Hilfslieferung der österreichischen Bundesregierung kam indes noch nicht zum Einsatz. Die Decken, Planen und Hygienepakete aus Österreich lagern laut Medienberichten noch immer in einer Halle bei Athen. Auch als Caritas waren wir in den vergangenen Wochen oft mit der Frage konfrontiert: "Kommt eure Hilfe an?" Die Antwort lautet: "Ja, das tut sie. Doch selbstverständlich ist es in diesen Zeiten nicht." Gemeinsam mit lokalen Partnern konnten wir sie in den letzten Monaten noch verstärken.

Einfache Frage

Die Flucht- und Migrationskrise ist zweifelsohne eine der großen Herausforderungen, vor denen Europa heute steht. Und klar ist auch: Auf komplexe Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Gleichzeitig ist wahr: Auf Lesbos geht es in Wahrheit um eine unfassbar einfache, sehr konkrete Frage: Will Europa das Leid der Menschen vor Ort beenden? Oder wollen wir Teil einer Wertegemeinschaft sein, in der etwa alte und pflegebedürftige Menschen und tausende Kinder den Winter in unbeheizten Zelten verbringen müssen? Während wir unsere Kinder in Österreich mit Masken in die Schulen schicken und Pflegewohnhäuser vor Corona schützen, ist es uns gleichzeitig egal, dass tausende Kinder und alte Menschen in Griechenland im Dreck dahinvegetieren. 70 Jahre nach Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention steht ebendiese in Griechenland auf dem Spiel.

Doch es könnte auch ohne hässliche Bilder gehen. Auch mithilfe Österreichs. Eine Sofortevakuierung der griechischen Inseln ist ohne Alternative. Auch unser Land hat sich in der Vergangenheit mehrfach und erfolgreich an humanitären Aufnahmeprogrammen (Resettlement) beteiligt. Die Zahl der Neuankommenden auf den Inseln ist infolgedessen nicht gestiegen. Heute sagt das offizielle Österreich: "Wir können nicht alle retten!" Das ist schon richtig. Doch gar niemanden zu retten sollte aus Sicht Österreichs mit seiner langen humanitären Tradition keine Alternative sein. Für jedes einzelne Kind macht eine Evakuierung einen dramatisch großen Unterschied. Da geht es nicht um Symbole, sondern um konkrete Menschen.

Menschen schützen

Vielleicht bietet die Zeit nach der Wien-Wahl nun die Möglichkeit, Entscheidungen auch auf Basis von Werten, Vernunft und Menschlichkeit zu treffen. Österreich sollte dem Beispiel anderer EU-Staaten wie Irland, Finnland, Kroatien oder Deutschland folgen und Menschen aus den Camps oder dem griechischen Festland aufnehmen. Die österreichische Bischofskonferenz hat sich dafür ausgesprochen. Der Bundespräsident ebenso. Und auch zahlreiche Bürgermeister aller politischen Couleurs – darunter auch etliche der türkisen ÖVP – haben Hilfsbereitschaft signalisiert.

Das Sichern von Grenzen und das Einhalten der Genfer Flüchtlingskonvention dürfen und müssen einander nicht ausschließen. Wir können beides: Grenzen sichern und Menschen schützen. Es ist keine Frage des Könnens, sondern eine Frage des Wollens. Das gilt für Athen wie für Wien oder Brüssel. (Klaus Schwertner, 14.10.2020)