Mit ihren klaren Ansagen zu den Versäumnissen in der Klimapolitik wurde Greta Thunberg zum Idol von Millionen: "I Am Greta" versucht, ihre Faszination zu ergründen.

Foto: Stadtkino

Für direkte Wahlempfehlungen war Greta Thunberg bisher nicht bekannt, insofern kam ihr Twitter-"Endorsement" des demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden letzten Samstag überraschend. Er sei die bessere Wahl als Trump, schrieb die schwedische Klimaaktivistin – das klang ein wenig nach der Leibniz’schen Formel der "besten aller möglichen Welten". Die Skepsis, dass auch Biden im Kampf gegen den Klimawandel zu stark dem Pragmatismus verpflichtet ist, schwang deutlich mit.

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In I Am Greta, einer für Hulu produzierten Dokumentation, die nun auch im Kino startet, liefern vor allem die zahlreichen Begegnungen mit Politikern zwischen 2018 und 2019 Aufschluss darüber, woher Thunbergs Zweifel über die Handlungsbereitschaft der Politik herrührt. Eine der aufschlussreicheren Szenen führt in den Élysée-Palast, wo der französische Präsident Emmanuel Macron der damals 16-Jährigen mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht ein paar Smalltalk-Fragen stellt. Es liegt nicht nur an dem imperialen Setting, dass Macron gegenüber dem Mädchen überheblich wirkt. Wie viele andere seiner Zunft betrachtet er sie mehr als "photo opportunity", die seiner Wirkung nicht ganz abträglich ist.

Hulu

Eine der genuinen Qualitäten des Dokumentarfilms ist es, Bilder heraufzubefördern, die in der routinierten Abwicklung von Themen verlorengehen. Auch Nathan Grossmans Dokumentation tritt mit dem Anspruch auf, ein "dreidimensionales Bild" von Thunberg zu schaffen, sagt er im STANDARD-Interview: "Nachrichtenmedien steht nur ein limitiertes Zeitfenster zur Verfügung. Ich wollte Greta auf Augenhöhe begegnen und die Welt aus ihrer Perspektive betrachten. Mit allen Highs und Lows, die dazugehören." Leichter gesagt als getan: Ist es nicht auch Unnahbarkeit, dieses "Je ne sais quoi", das Greta Thunberg so verführerisch macht?

Von Anfang an an ihrer Seite

Dem 1990 geborenen Schweden fiel das Porträt nachgerade mit Glück in die Hände. Ein Freund der Familie Thunberg informierte ihn über Gretas Streikaktivitäten vor dem schwedischen Parlament, die er dann mit einem Tontechniker begleitete – "zuerst konnten wir sie gar nicht finden". Der Zeitpunkt erwies sich als ideal: Grossman konnte Thunbergs Vertrauen gewinnen und ihren kometenhaften Aufstieg zur aktuell wohl berühmtesten Klimaaktivistin tatsächlich von Anfang an verfolgen. Wie "verrückt" das Jahr wurde, in dem er sie begleitet hat, unter anderem auch bei einer Audienz beim Papst, hätte er sich freilich nie träumen lassen.

Nicht zuletzt die Geschwindigkeit, mit der sie zum Sprachrohr einer sich nicht ausreichend repräsentiert fühlenden jüngeren Generation wurde, sollte I Am Greta eigentlich auch zur Reflexion eines medialen Phänomens werden lassen. Doch für diesen Zugang fehlt es dem Film an analytischer Schärfe: Grossman profiliert sich mehr durch sein Nahverhältnis, durch seinen Insiderblick, weniger dadurch, den Mangel an Leitfiguren zu ergründen, durch den ihre Rolle erst ihre Wirksamkeit entfaltet.

Rhetorische Entwicklung der Reden

Doch auch der Blick hinter die Kulissen bleibt meist oberflächlich. Die Chance, zu beleuchten, wie stark Thunberg und ihr Vater Svante das mediale Selbstbild lenken, lässt sich der Film entgehen. Man sieht zwar, wie sie über die Wahl ihrer Worte bei Auftritten grübelt und Anmerkungen ihres Vaters zurückweist. Nicht aber, ob ihre Reden, etwa die berühmte, mit zornigen Stirnesfalten im New Yorker Uno-Hauptquartier vorgetragene, sich nach einem Schema entwickelt haben.

"Natürlich ist der Film komprimiert", rechtfertigt sich Grossman. "Man kann nicht alles thematisieren. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass sie ihre Auftritte probt. Das passiert auf der Bühne, kommt aus ihrem Inneren explosionsartig zum Vorschein." Grossman gibt zu, dass er sich nicht alles an ihr erklären konnte – etwa jene Szene, in der sie gegen sie gerichtete Hasspostings und -briefe vorliest und dazu lachend den Kopf schüttelt, habe ihn verblüfft: "Jemand anderer würde damit anders umgehen. Aber sie scheint auch daran gewöhnt zu sein, traktiert zu werden."

Gretas "Superkraft"

Doch auch wenn jener Moment eine Stärke Thunbergs offenbart, die aus ihrem sozialen Außenseitertum herrührt (ihr Asperger-Syndrom bezeichnete sie selbst wiederholt als "Superkraft"), bleiben viele andere Fragen unbeantwortet. Auf welche Art sich etwa Gretas Eltern der fraglos immensen Herausforderung eines plötzlich so exponierten Daseins stellen und wie sie ihrer Tochter Schutz gewähren, beschäftigt einen spätestens dann, wenn Greta mit einem Segelboot nach New York unterwegs ist und erschöpft am Telefon weint.

Anders gesagt: Grossman hat zwar recht, wenn er neue Vorbilder einfordert – nämlich auch solche, die Schwächen zeigen. Doch als Porträt von Greta Thunberg bleibt sein Film oft zu zögerlich, zu unentschieden zwischen der Verstärkung des Anliegens und der Durchdringung der Person. (Dominik Kamalzadeh, 14.10.2020)


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Redakteurin Ana Grujić fordert strengere Umweltgesetze von der Politik statt nur individuellem Konsumverhalten der Verbraucher, um gegen die Klimakrise zu kämpfen.
DER STANDARD

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