Da ist es also nun, das iPhone 12. Mit einem Monat Verspätung hat Apple sein wichtigstes Produkt des Jahres vorgestellt, das trotz stagnierender Nachfrage immer noch den Löwenanteil der Einnahmen beisteuert. Auch diesmal wird es nicht anders sein, auch wenn der Konzern sich immer stärker auf seine Onlinedienste wie Apple Music stützt.

Betrachtet man die Präsentation nüchtern, so hielten sich die Fortschritte für den Durchschnittsanwender in Grenzen. Wie jedes Jahr gibt es einen schnelleren Prozessor, eine bessere Grafikeinheit und neue Softwaretricks bei der Kamera. Und man hat die Auflösung des Bildschirms erhöht sowie einen Magsafe-Anschluss integriert, dessen praktische Relevanz sich noch erweisen muss. Dazu gibt es 5G-Support, doch vielerorts stecken die entsprechenden Netze noch in den Kinderschuhen.

Profi-Features

Das Basismodell und das iPhone 12 Mini bieten im Vergleich zum Vorjahr "more of the same" mit wenig spektakulären Weiterentwicklungen. Nicht so beim Pro-Modell. Hier hat Apple ein beachtliches Zeitkontingent dafür aufgewandt, vier neue Features für die Kamera vorzustellen: den Lidar-Sensor, das Pro-RAW-Format und Videoaufnahme und -bearbeitung mit HDR und Dolby Vision.

Ein mit dem iPhone 12 Pro aufgenommenes Foto.
Foto: Apple

Mit Ausnahme vielleicht des Lidar-Sensors, der auch bei Fotos für schnelleren Autofokus und bessere Tiefenabbildung und besseres Augmented-Reality-Erlebnis sorgen soll, bietet eigentlich keine dieser Funktionen besonderen Mehrwert für den "Durchschnittskäufer". Videos von der Firmenfeier oder der letzten Wanderung mögen zwar in HDR besser aussehen, kinoreife Qualität ist für solche Aufnahmen aber kein Pflichtkriterium. Studioqualität bei Fotos nimmt man zwar gerne, wer aber nicht gerade professionell Instagram-Accounts betreut oder Fotograf ist, kann auch mit dem normalen iPhone 12 und diversen anderen Smartphones sehr ansprechende Bilder schießen.

Pro RAW, eine Erweiterung des bekannten "Rohdaten"-Fotoformats, ist ebenfalls eine Funktion, die primär Fotografie- und Bildbearbeitungsenthusiasten etwas bringt. Die große Mehrheit der Nutzer ist am Handy mit den verfügbaren Filtern und Nachbearbeitungsoptionen der Kamera und Galerie ausreichend bedient und eher nicht das Publikum, das sich in die Möglichkeiten von RAW-Bearbeitung hineinfuchst.

Aus Plus wurde Pro

Was Apple hier ganz klar macht, ist, seine Zielgruppen zu diversifizieren. Lange vermarktete man das iPhone als eine Art Statussymbol, die Crème de la Crème unter den Smartphones. Und zur Auswahl gab es ein oder zwei Modelle. Das hat sich geändert.

Den Nimbus des "Edlen" hat man freilich nicht abgelegt, wie allein schon die Betonung der Materialwahl gezeigt hat. Jedoch gibt es nun vier neue Modelle und, wenn man das iPhone SE einrechnet, fünf iPhone-Varianten insgesamt. Und was einst das iPhone Plus war, ist unter der Bezeichnung Pro zum Produkt für Menschen aus der Kreativbranche geworden.

Foto: Apple

Über die Kooperation mit Fotografen und Regisseuren wird man auch nicht müde, die Botschaft zu verbreiten, dass das eigene Handy immer mehr zum Ersatz für eine Profi-Filmkamera wird. In der Realität stimmt das natürlich so nicht. Als Ergänzung oder "Stilmittel" für verschiedene Filme kann der Einsatz eines Smartphones natürlich Sinn ergeben. Doch den Vorsprung des großen und schweren Hollywood-Equipments, das pro Kamera fünf- bis sechsstellige Beträge kostet, wird man in diesem Formfaktor niemals aufholen können.

Nicht nur iPhones

Diese PR-Strategie umfasst freilich nicht nur Apples Handys. Auch neue Macs oder das iPad Pro werden nicht nur als taugliche Alltagshelfer angepriesen, sondern zunehmend als Kreativmaschinen für die Bild-, Ton- und Videobearbeitung. Warum eine dicke, schwere Workstation mitnehmen, wenn Software wie Adobe Premiere auch auf dem flachen, leichtgewichtigen Tablet flott läuft?

Bei der Apple Watch hatte man es in den ersten Jahren ausschließlich mit der Vermarktung über die "Lifestyle"-Schiene probiert. Nun wirbt man mit der Smartwatch als Helfer für Ärzte und Fitnesstrainer – idealerweise natürlich in Verbindung mit einem Handy aus eigenem Hause.

Foto: Aplpe

Pro-Handy zum Pro-Preis

Ein wichtiger Grund für diese Diversifikation dürften auch die Absatzzahlen der iPhones sein, die in den letzten Jahren meist gesunken sind oder stagnierten. Will der Konzern seine Investoren glücklich machen und auch in diesem Bereich das Einnahmenniveau halten, so geht das auch mit neuen und teureren Produkten.

1.300 Euro für ein Smartphone zu verlangen ist leichter, wenn man es erfolgreich als Profigerät positioniert. Das lockt nicht nur Kundschaft, die tatsächlich von den erwähnten neuen Features profitiert, sondern verleitet auch viele "Normalkäufer" dazu, mehr auszugeben, auch wenn das Aufnehmen von HDR-Videos nach dem dritten Mal vielleicht seinen Reiz verliert. (gpi, 14.10.2020)