Mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten hat nicht an der Wien-Wahl teilgenommen (Wahlbeteiligung: 65,27 Prozent). Die Nichtwählerinnen und Nichtwähler bilden so mit rund 395.000 Stimmen den größten Block, noch vor der Wahlsiegerin SPÖ. Doch diese Gruppe ist ungleich über die sozialen Schichten verteilt. Es gibt klare Zusammenhänge zwischen sozioökonomischen Ressourcen und politischer Beteiligung.

Soziale Lage bestimmt Wahlverhalten

Die soziale Lage wird an einer Reihe von gesellschaftlichen Ungleichheitsmerkmalen festgemacht. Diese umfassen Ausbildungswege, Erwerbsarbeit, Arbeitsbedingungen, Einkommen, Vermögen, Wohnraum oder Gesundheit, Geschlecht und Alter, Migrationshintergrund, aber auch Anerkennung und Wertschätzung sowie die Möglichkeit, an der politischen Gestaltung der eigenen Lebensumstände mitzuwirken. Unsere Ergebnisse zeigen: Die Bedeutung der sozialen Lage für die Wahlbeteiligung in den Stadtteilen (= Gruppen von Zählsprengeln, siehe Methodik im Infokasten) ist hoch. Drei Viertel (74 Prozent) der Variation in der regionalen Wahlbeteiligung werden so erklärt. Besonders relevant ist vertikale Ungleichheit – also jene Merkmale rund um formale Bildung, Einkommen, Vermögen und sozialen Status, die unsere Gesellschaft in ein "Oben" und "Unten" teilen.

Nun kommen diese Merkmale nicht getrennt voneinander vor: In Stadtteilen mit hohem durchschnittlichem Einkommen sind auch die Akademikerquote und das Berufsprestige der Menschen hoch, die Arbeitslosigkeit ist gering. Das Gegenteil gilt für Stadtteile mit geringem durchschnittlichem Einkommen: Hier leben viele Menschen mit Pflichtschulabschluss, geringem Berufsprestige, und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Ebenfalls höher ist in diesen Stadtteilen der Anteil an Wienerinnen und Wienern mit ausländischen Staatsbürgerschaften.

Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass Wien in Hinblick auf sozioökonomische Ressourcen weit weniger durchmischt ist als gemeinhin angenommen. Drei Cluster lassen sich entlang sozialer Lagen festmachen, die sich geografisch klar abgrenzen (siehe Grafik). Während das oberste Cluster beinahe geschlossen zu den Urnen schreitet, liegt die Wahlbeteiligung im untersten Cluster weit unter dem Wiener Durchschnitt.

Folgende Merkmale sozialer Ungleichheit wurden zur Clusterbildung herangezogen: Anteil Wienerinnen und Wiener mit maximal Pflichtschulabschluss sowie Anteil jener mit Hochschulabschluss, Arbeitslosenquote, durchschnittliches Jahresnettoeinkommen, Anteil an Beschäftigten mit geringem Berufsprestige und Anteil an österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern.
Foto: Ehs/Zandonella

Viele Nichtwähler unter den sozial Schwachen

Die repräsentative Befragung und die qualitativen Interviews bestätigten auch für die Gemeinderatswahl 2020: Allen voran die Verfügbarkeit von sozioökonomischen Ressourcen bedingt eine höhere Teilnahmewahrscheinlichkeit. Dies schlägt sich auch in der subjektiven Wahrnehmung der Wienerinnen und Wiener nieder, denn je weiter oben in der Gesellschaft sie sich selbst verorten, desto wahrscheinlicher ist auch ihre Wahlteilnahme. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass weniger Ressourcen sowie eine Eigenverortung in der unteren Gesellschaftsschicht mit einer geringeren Teilnahmewahrscheinlichkeit einhergehen. Eine entscheidende Rolle spielt darüber hinaus die Integration in Erwerbsarbeit, denn auch mit Arbeitslosigkeit sinkt die Teilnahmewahrscheinlichkeit. In Hinblick auf horizontale Ungleichheit planten wiederum Wienerinnen und Wiener mit Migrationshintergrund seltener, an der Wahl teilzunehmen.

Die Ergebnisse auf individueller und auf Stadtteilebene verdichten sich zu einem konsistenten Bild: Die Wienerinnen und Wiener gehen umso seltener zur Wahl, je prekärer ihre soziale Lage ist. Kumulieren individuelle prekäre soziale Lagen dann in einzelnen Stadtteilen (wie im unteren Cluster, rot in der Grafik), sinkt die Wahlbeteiligung in diesen Stadtteilen.

Kein Vertrauen in die Politik

Zuletzt stand noch infrage, warum Wienerinnen und Wiener mit geringeren sozioökonomischen Ressourcen seltener zur Wahl gehen. Denn ebenso könnte die schlechtere soziale Lage ja motivieren, an der Wahl teilzunehmen und so die Politik zu verändern. Hierfür warfen wir einen Blick auf jene Erfahrungen, die Menschen mit dem demokratischen System machen. Die Gesamtheit dieser Erfahrungen prägt nicht nur das Vertrauen in die Demokratie, sondern auch politische Selbstwirksamkeit und damit die Überzeugung, durch Beteiligung etwas bewirken zu können – eine notwendige Voraussetzung für politische Partizipation.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Distanz der Wienerinnen und Wiener mit geringen sozioökonomischen Ressourcen zum politischen System weit in das menschliche Grundbedürfnis nach Wertschätzung und Anerkennung hineinreicht: Die überwiegende Mehrzahl der Wienerinnen und Wiener im unteren Cluster fühlt sich vom politischen System zu Menschen zweiter Klasse degradiert. Zwei Drittel von ihnen sind überzeugt, kaum oder keinen Einfluss auf politische Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse zu haben.

Sozioökonomisch Schwächere finden viel seltener den Weg in die Wahllokale.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Die Nichtwählerinnen und Nichtwähler eint geringes Vertrauen in die staatlichen Institutionen, in die Politik und in die Wirksamkeit der eigenen Stimme. Dem liegt zugrunde, dass das politische System ihnen Partizipation – an ökonomischer Sicherheit, gesellschaftlicher Anerkennung oder an der Mitgestaltung der eigenen Lebensumstände – bislang vorenthalten hat. Der sozialen Ungleichheit folgt damit auch in Wien politische Ungleichheit, denn ob die Wienerinnen und Wiener ihre Anliegen in den politischen Prozess einbringen beziehungsweise einbringen können, ist abhängig von ihren sozioökonomischen Ressourcen.

Unsere Studie legt nahe, dass weder rechtliche Gleichheit allein noch die bloße Ausweitung des Beteiligungskataloges zu mehr politischer Beteiligung führt. Der erste Schritt zu mehr Beteiligung liegt in der Erkenntnis, dass politische Partizipation weniger auf Freiwilligkeit denn auf sozioökonomischen Prämissen beruht. Die Rückkehr der Klassenfrage auf die politische Agenda ist in Hinblick auf politische Partizipation und Repräsentation unerlässlich. (Tamara Ehs, Martina Zandonella, 16.10.2020)