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Für Emmanuel Macron geht es in der aktuellen Phase der Corona-Krise um alles oder nichts.
Foto: AP Photo/Lewis Joly

Ein hässliches Wort kehrt nach Frankreich zurück – "couvre-feu", zu Deutsch: Sperrstunde. Der Begriff weckt in Paris ungute Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, als das Nazi-Regime die französische Hauptstadt besetzt hatte. Zudem galt eine nächtliche Ausgangssperre schon in diesem März, unter anderem in der elsässischen Stadt Mulhouse, einer der schlimmsten Brutstätten der ersten Corona-Welle.

Ab Samstag müssen nun die Bewohner von Städten wie Marseille, Lyon, Grenoble, Lille, Montpellier und allen voran Paris abends erneut zu Hause bleiben. Die Sperrstunde gilt in diesen neun Städten von 21 bis 6 Uhr, was den Besuch von Restaurants, Kinos, Theatern und privaten Soireen verunmöglicht, wie Präsident Emmanuel Macron in einem fast einstündigen Fernsehauftritt am Mittwochabend erklärte.

Macron bezeichnete die Zunahme der Ansteckung in den betroffenen Städten als "besorgniserregend". Die Ansteckungszahlen haben in Frankreich auf bis zu 20.000 Fälle pro Tag zugenommen. In Paris sind wieder 1.500 Covid-Patienten im Spital, 500 müssen beatmet werden. Ende des Monats sollen die Spitalsbetten im Raum Paris erstmals seit April wieder voll ausgelastet sein.

Sparmaßnahmen beschlossen

Der Präsident betonte, es bestehe "kein Grund zur Panik". Sein Optimismus wird allerdings von Ökonomen nicht geteilt: Sie warnen immer eindringlicher vor den dramatischen Konsequenzen für die Wirtschaft, wenn die zweite Corona-Welle ähnliche Ausmaße annehmen sollte wie die erste.

Aus diesem Grund beschließt Macron nun Maßnahmen, die zumindest für die betroffenen Freizeitbranchen massive Einschnitte darstellen. Nur so glaubt die Regierung den Anstieg der täglichen Neuinfektionen von 20.000 auf "3.000 bis 5.000" – wie Macron sagte – bremsen zu können.

Zum Schutz der Restaurant- und Freizeitbetriebe aktiviert er das großzügige Kurzarbeitsregime der ersten Corona-Welle, als der Staat hundert Prozent der Firmenauslagen abgedeckt hatte. Trotzdem haben schon viele Wirte angekündigt, dass sie bei einer Ausgangssperre endgültig Konkurs anmelden müssten.

Gefahr für die Wirtschaft

Die Operation "couvre-feu" ist vorerst auf vier Wochen befristet. Macron zeigte sich zuversichtlich, dass sie nach einer ersten Überprüfung in zwei Wochen bereits gelockert werden könnte. Möglich ist aber auch das Gegenteil. In dem Fall käme die Regierung nicht mehr umhin, in Ballungsräumen wie Paris – wo allein ein Sechstel der 65 Millionen Franzosen lebt – eine Ausgangsbeschränkung rund um die Uhr anzuordnen. Einzelne Ökonomen befürchten, dass dies die gesamte Wirtschaft abwürgen würde. Einzelne Branchen wie die Luftfahrt oder der Tourismus haben bereits über 50 Milliarden Euro verloren und liegen am Boden. 800.000 Arbeitnehmer haben Covid-bedingt ihren Job verloren.

Und allzu schnell dürfte die zweite Welle nicht verebben: Am Mittwoch wurde die größte Agrarmesse Frankreichs abgesagt, was vor allem deshalb bemerkenswert ist, weil sie erst für Februar und März des nächsten Jahres in Paris geplant war. Offensichtlich nehmen die Organisatoren an, dass die Corona-Krise auch noch im Frühjahr grassieren wird.

Schlechte Aussichten für Wahl 2022

Für Macron geht es nicht nur um die Rettung der französischen Wirtschaft, sondern auch seiner selbst. Der Präsident verliert in den Umfragen an Boden, weil er unfähig war, nach dem schlechten Krisenmanagement der ersten Welle wenigstens die Ankunft der zweiten einzugrenzen. Einmal mehr schauen die Franzosen neidisch auf Deutschland, wo die Infektionszahlen viel niedriger sind.

Schuld ist allerdings nicht nur der sprunghafte Corona-Kurs des Präsidenten, der die Schraube anzieht, sie wieder loslässt, um nun wieder durchzugreifen. In Frankreich mangelt es auch dramatisch an der Koordination zwischen lokalen und nationalen Instanzen. Als die Regierung vergangene Woche bereits die Stehbars und Cafés schloss, rebellierten im südlichen Marseille Gäste, Wirte – sowie sämtliche Lokal- und Regionalpolitiker.

So misslingt es Macron weiterhin, die Franzosen hinter seine Politik zu scharen. Das droht auch seine Aussichten bei der Präsidentenwahl 2022 zu schmälern. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen kritisierte Macrons Maßnahmen, noch bevor sie formell angekündigt waren, mit der Bemerkung: "Solche Einschränkungen erlässt man nur, wenn man zuvor alles verkorkst hat." (Stefan Brändle, 14.10.2020)