François Boucq hat jenen Moment eingefangen, als der Sturm der Kouachi-Brüder auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" gezeigt wurde.

Foto: François Boucq/Charlie Hebdo

Der Gerichtszeichner François Boucq will mithelfen, ein nationales Trauma zu überwinden.

Foto: Fred Kihn

Geschichten erzählen, das kann François Boucq: Der aus Lille stammende Nordfranzose ist einer der bekanntesten und innovativsten Comic-Zeichner seines Landes. Soeben ist sein neuestes, 150-seitiges Opus New York Cannibals erschienen. Jetzt hat Boucq aber eine andere Story auf dem Zeichenbrett. Seit September sitzt er im Saal 2.02 des Pariser Justizgebäudes, eine große Mappe auf den Knien. Aus nächster Nähe verfolgt Boucq die sich abwechselnden Protagonisten. Da wäre Laurent Sourrisseau, Chefredakteur von Charlie Hebdo, der dem Gericht erzählte, wie er an jenem 7. Januar 2015 das Blutbad durch zwei schwarz vermummte Killer mit einem Schulterschuss überlebte. Oder Zarie Sibony, damals Kassiererin im jüdischen Supermarkt, die von der mörderischen Geiselnahme im Supermarkt Hypercacher zwei Tage später berichtete.

Boucq erzählt die schrecklichen Geschichten auf seine Art weiter. Da im Gerichtssaal nicht fotografiert werden darf, hält er die Momente mit Chinatusche, Bleistift und Aquarellfarbe fest. Die Gerichtszeichnungen erscheinen am nächsten Tag in Charlies Online- und im Wochenmagazin. Boucq zeichnet halbe Gesichter hinter Masken, Augen voller Tränen, Blicke voller Verachtung. "Die Anti-Covid-Masken schränken die Ausdrucksmöglichkeiten ein, aber nicht den Ausdruck selber", schildert Boucq seine Eindrücke zu einem Prozess, der eigentlich unmöglich ist: Die drei Haupttäter sind tot und auf muslimischen Friedhöfen namenlos begraben. Und die zweimonatige Gerichtsverhandlung wird zwar im November in ein Urteil gegen die 14 Komplizen münden, aber keine gesellschaftlichen oder politischen Lösungen des "Karikaturproblems" bieten.

Zur Überwindung des nationalen Traumas

Boucq zeichnet trotzdem. Oder erst recht. Er wolle mithelfen, dass Frankreich über ein nationales Trauma hinwegkomme, sinniert er auf einer Pausenbank vor seinem gegenwärtigen Arbeitsplatz, dem Saal 2.02. Als Chronist eines historischen Prozesses fühlt er sich nicht. Strebt er wenigstens eine Objektivität in der Sache an, so wie die Richter? "Nein, ich mache das Gegenteil. Für mich gibt es keine Objektivität, es gibt nur eine Illusion der Wahrheit, Fiktionen, Geschichten." Boucqs Blick ruht nie. Seine Zeichenhand ist stets in Wartestellung, bis sie mit einem Mal über das breite Papier huscht. "Im Unterschied zur Fotografie, die einen Augenblick abbildet, erlaubt eine Zeichnung eine Synthese ganzer Abläufe. Sie fasst Empfindungen zusammen, hält lange Aussagen in einem Gesichtsausdruck fest", meint der 64-jährige Franzose.

Die Spannung steigt seit Prozessbeginn. Wochenlang schilderten zahllose Zeugen die Anschläge – das "Blup blup" der Kalaschnikows, das Blut, den Horror. Erstmals zeigte die Polizei Sequenzen der Überwachungskameras vom Massaker in der Charlie-Redaktion bis zur Geiselnahme im Hypercacher; ebenso die Exekution des verletzten, bereits am Boden liegenden Polizisten Ahmed Merabet.

Gesichter, die nicht die Wahrheit sagen

Nun rücken im Prozess die Angeklagten in den Vordergrund, die Helfershelfer: Sie sitzen in den Plexiglaszellen, jeder mit einem vermummten Elitesoldaten im Rücken. Die vierzehn Kriminellen – alle vorbestraft – leisteten laut Anklageschrift logistische Hilfe. Die Angeklagten behaupten, sie hätten von den Terrorplänen keine Ahnung gehabt. Boucq zeichnet dazu die Ex-Frauen der Kouachis, die mit der Hand auf der Brust schworen, von den Mordplänen ihrer Gatten bis am Vorabend nichts mitbekommen zu haben. Boucq nennt das "eine Art Poesie der Lüge" und zeichnet Gesichter, die nicht die Wahrheit sagen.

An diesem Dienstag spricht ein Polizeiermittler im Zeugenstand von den Beziehungen der Angeklagten zu den Terroristen. Amar Ramdani (39) zum Beispiel ließ dem Geiselnehmer Amedy Coulibaly Geld zukommen, damit dieser die Attacke auf den Hypercacher verüben konnte. Der Ermittler hat gezählt: Ramdani tauschte mit dem Killer von vier jüdischen Geiseln über die Vormonate insgesamt 650 SMS aus. Ein anderer Angeklagter, Pastor Alwatik (35), Drogenhändler mit Hafterfahrung, ist vor Gericht, weil er den Jihadisten Tatwaffen beschafft hatte. Er sagt, er sei nicht sehr religiös, er habe mit seinem früheren Haftkumpel Coulibaly nur ungern Jihad-Videos aus Syrien angeschaut.

Angeklagte, die Comic-Gaunern ähneln

Boucq glaubt ihm kein Wort. Er drückt das in seinen Zeichnungen aus, in denen die Angeklagten den Gaunern seiner Comic-Alben ähneln. Boucq hat bei dem Massaker in der Charlie-Redaktion auch Freunde verloren, etwa den Karikaturisten Cabu, der für einzelne der umstrittenen Mohammed-Karikaturen verantwortlich zeichnete.

Cabu hatte Boucq in den Monaten vor dem Attentat mehrmals gefragt, ob er nicht regelmäßig für Charlie zeichnen wolle. "Ich war nicht dagegen, aber irgendwie verzögerte sich alles", erinnert sich der Comic-Mann. "Cabu hatte ja keine Mail-Adresse und antwortete kaum je am Telefon." Sonst wäre Boucq vielleicht tatsächlich auch bei der blutigen Redaktionssitzung des 7. Januar 2015 anwesend gewesen.

Das Recht, alles zu sagen

Was er von den Mohammed-Karikaturen hält? Der Comic-Zeichner antwortet prinzipiell, die Meinungsfreiheit sei sakrosankt. "Wir sind die Hofnarren der Republik. Die haben das Recht, alles zu sagen, sich über alle lustig zu machen. Früher über den König, heute über den Präsidenten oder wen oder was auch immer", denn Satire sei in Frankreich ein politisches Ventil. "Sie ist das notwendige Korrektiv eines autoritären, pompösen und bisweilen lächerlichen Staates." Jetzt erhebt sich Boucq, er muss zu einer Verabredung. Als er sich verabschiedet hat, folgt ihm diskret ein Schatten. Es ist sein Leibwächter. Man weiß ja als Zeichner nie – heutzutage. (Stefan Brändle aus Paris, 15.10.2020)