Die Europäische Union ist die Antwort auf die Rechtlosigkeit der nationalsozialistischen und faschistischen Systeme in Europa sowie auf die durch Gewalt charakterisierten Beziehungen zwischen Staaten. Viele vergessen diesen Ursprung und die daraus folgenden Aufgaben, die die Union zu erfüllen hätte. Die Diskussion über den Rechtsstaat und die individuellen Rechte in der EU bekam einen neuen Anstoß während der Debatte um eine europäische Verfassung. Am Ende der Debatte gab es keine Verfassung, sondern den Vertrag von Lissabon, aber dafür einen Grundrechtskatalog, der die wesentlichen Grund- und Freiheitsrechte enthält und diese für die Aktivitäten der EU verbindlich macht. Aber eben prinzipiell für die EU und ihr Gemeinschaftsrecht. Es ist dabei nicht immer leicht, all diese Rechte und Verpflichtungen auf die Mitgliedsstaaten und deren Regierungen zu übertragen.

Langer Rechtsweg

Die EU-Kommission ist die "Hüterin des Gemeinschaftsrechts". Sie ist aber dabei auch von den Rechtsauslegungen des Europäischen Gerichtshofs abhängig. Glücklicherweise hat der Europäische Gerichtshof in den meisten Fällen den Interventionen der europäischen Kommissionen recht gegeben. Erst unlängst hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass das ungarische Hochschulgesetz gleich in mehrfacher Hinsicht internationales und europäisches Recht verletzt. Konkret hat Ungarn gegen die EU-Verträge und gegen die Grundrechtscharta verstoßen. Das betrifft vor allem auch die Vertreibung der Central European University, die in der Folge den Hauptsitz nach Wien verlegte. Aber heute ist es ja "modern", auch Entscheide von Höchstgerichten zu negieren, wenn sie einem nicht passen. Vor allem kommen sie oft zu spät, wenn also schon illegale Regierungsentscheidungen vollzogen wurden.

In diesem Zusammenhang verstehe ich den Zorn des Rektors der Central European University, der sich über die zu spät gekommene Entscheidung ärgert und klare sowie finanzielle Sanktionen im Falle solcher Rechtsverletzungen fordert. Und er hat auch recht, dass aus der EU, aber auch aus den USA mehr Druck auf die ungarische Regierung ausgeübt hätte werden sollen. Aber auch die EU kann sich letztlich nur auf den Rechtsweg verlassen – und der dauert. Und in Fällen der notwendigen Einstimmigkeit haben alle Staaten, so auch Ungarn, die Möglichkeit, Sanktionen zu blockieren.

Anlass zur Sorge

Das Europäische Parlament hat es da als politisches Gremium etwas leichter und ist glücklicherweise besonders aktiv bei der Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit – jedenfalls handelt die Mehrheit im EU-Parlament bisher in diesem Sinn. Der Europäische Rat, der ja aus den Mitgliedsstaaten zusammengesetzt ist, handelt hingegen in diesen Fragen ausnehmend und außerordentlich "solidarisch", also unkritisch gegenüber Rechtsverletzungen in einigen Mitgliedsstaaten. Diese komplexe Rechtslage und Struktur der Europäischen Union und die unterschiedliche "Toleranz" gegenüber Verletzungen der Grund- und Freiheitsrechte haben bei vielen Bürgerinnen und Bürgern einen enttäuschenden Eindruck hinterlassen. Immer wieder wurde die Frage aufgeworfen, warum "die" EU solche Rechtsverletzungen nicht ahndet. Und es kann doch nicht sein, so wurde eingewandt, dass Länder, die offensichtlich die gemeinsamen "Werte" und die daraus folgenden Regeln verletzen, Geld aus dem EU-Budget erhalten.

Da war es gut zu erfahren, dass die EU-Kommission kürzlich einen kritischen Bericht zur Rechtsstaatlichkeit in der EU veröffentlichte. Selbstverständlich wurden alle Mitgliedsstaaten einer Untersuchung hinsichtlich ihrer Rechtsstrukturen und der Rechtspraxis unterzogen. Dieser Bericht unterstreicht die grundrechtliche Basis der Europäischen Union, aber auch, dass diese Rechte und deren hoher Standard oft unterschiedliche Berücksichtigung finden. Bei dieser Untersuchung wurde auf vier Schwerpunkte besonders Wert gelegt: das Justizsystem, den Kampf gegen die Korruption, die Medienvielfalt und andere "checks and balances".

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Die EU-Kommission veröffentlichte einen Bericht, der sich kritisch mit der Rechtsstaatlichkeit vor allem in Ungarn, Polen, Bulgarien, Rumänien und Malta auseinandersetzt.
Foto: AP/Yves Herman

Selbstverständlich gab es für alle Länder kritische Anmerkungen. Aber die Situation in Ungarn und Polen und dann in Bulgarien, Rumänien und Malta gab Anlass für besondere Sorgen. Was den Kampf gegen die Korruption betrifft, so waren auch viele europäische Bürgerinnen und Bürger besorgt, 71 Prozent von ihnen glauben, dass in ihrem Land Korruption weit verbreitet – ist und 40 Prozent glauben sogar, dass sie zugenommen hat. Was die Mediensituation betrifft, unterstreicht die EU-Kommission die gefährlichen Tendenzen der Medienkonzentration und den verstärkten politischen Einfluss als besonders gefährlich. Davon sind vor allem Bulgarien, Ungarn, Malta und Polen betroffen. Besonders traurig ist, dass gerade auch in diesen Ländern der Zivilgesellschaft, die sich um die Rechtsstaatlichkeit kümmert, Prügel in den Weg gelegt werden.

Finanzmittel trotz Verstößen?

Dieser Bericht sollte die Grundlage für eine seriöse Diskussion innerhalb der Länder selbst, innerhalb der EU und mit der Zivilgesellschaft werden. Die ersten Reaktionen aus manchen der kritisierten Länder waren allerdings nicht sehr hilfreich für eine solche Diskussion. So verlangte der ungarische Premierminister Viktor Orbán schon vor der Veröffentlichung des Berichts von der Kommissionspräsidentin die Entlassung der zuständigen Kommissarin, Věra Jourová. Die Kommissarin stammt aus der Tschechischen Republik und kennt die Situation in verschiedenen zentraleuropäischen Ländern sehr gut. Gemeinsam mit dem aus Belgien stammenden Kommissar Didier Reynders ist sie ein Garant dafür, dass die Kommission nicht parteiisch und mit Vorurteilen gegenüber Polen und Ungarn vorgeht.

Inzwischen ist aber ein neuer Streit entstanden. Wie sollte bei der Zuerkennung von Finanzmitteln aus dem EU-Budget vorgegangen werden, wenn klare Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vorliegen? Die Staats- und Regierungschefs konnten sich bei ihrem Budgetbeschluss auf keine Regeln in diesem Zusammenhang einigen. Der jetzige Vorschlag der EU-Kommission und der deutschen Präsidentschaft, nur dann Gelder zu sperren, wenn sie unmittelbar zu Rechtsverletzungen führen, stößt auf Widerstand im Europäischen Parlament.

Generell scheint die vorsichtige Haltung der EU-Kommission und der Ratspräsidentschaft der Mehrheit im EU-Parlament zu wenig. So hat es jüngst mit großer Mehrheit einen Antrag ("Entschließung zum Schutz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten in allen Mitgliedsstaaten") angenommen, der den Bereich der zu bewerteten Entwicklungen in den Mitgliedsstaaten erweitern würde und strengere Überprüfung und auch Sanktionen im Falle der Nichterfüllung der Auflagen vorsieht. Der vom Parlament bestellte Berichterstatter, Michal Šimečka aus der Slowakei, hat dabei festgestellt: "Der von uns vorgeschlagene jährliche Überwachungszyklus soll als ein einziges Instrument mehrere andere, die sich als unwirksam erwiesen haben, ergänzen und ersetzen. (...) Das wäre effizienter als unser derzeitiges inkohärentes Vorgehen – vor allem dann, wenn es haushaltspolitische Auflagen nach sich zieht."

Grundrechte und Freiheitsrechte stärker verankern

Für viele Bürgerinnen und Bürger geht dieser Vorschlag in die richtige Richtung, aber ich fürchte, dass er kaum eine Unterstützung in der EU-Kommission und schon gar nicht bei einigen Mitgliedstaaten finden wird. Eine Ausnahme ist – nicht zufällig – die slowakische Präsidentin, Zuzana Čaputová, die ja aus der Zivilgesellschaft kommt. Sie meinte, dass sie immer wieder überrascht ist, wie groß die Kluft zwischen dem verbalen Bekenntnis zu den europäischen Werten und der tatsächlichen Umsetzung ist. Und angesichts der Dauer der Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof verlangt sie effizientere Verfahren zur Verfolgung von Rechtsbrüchen. Da wäre es auch interessant, was die österreichische Regierung von einer aktiveren und klareren Strategie zur Durchsetzung der Grund- und Freiheitsrechte hält. Ich gehe von einer eher nicht so klaren und progressiven Haltung aus.

Grundsätzlich sollten wir die Ideen aus dem Europäischen Parlament nicht unter den Tisch fallen lassen. Wir brauchen innerhalb der EU Ideen und auch Druck für eine stärkere Verankerung der Grund- und Freiheitsrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit. Aber die Auseinandersetzung hinsichtlich der Verletzungen von Grund- und Freiheitsrechten kann natürlich nicht nur auf offiziellen, europäischen Plattformen geführt werden. Die Zivilgesellschaft muss aktiv bleiben, aber eben auch vonseiten der EU Unterstützung bekommen. Das Recht und das Bekenntnis zum Rechtsstaat der EU können nicht die politische Wachsamkeit und die politische Auseinandersetzung der kritischen Öffentlichkeit ersetzen. (Hannes Swoboda, 20.10.2020)