Fluide Identitäten: Mario Montez lebte ein bürgerliches Leben und eines als Dragqueen. In "Mario Banana #1" beobachtet ihn die statische Kamera beim lasziven Fruchtverzehr.
Foto: The Andy Warhol Museum

Was für ein märchenhaftes Paar Stöckelschuhe! Andy Warhol hat die Pumps 1956 mit Tusche, Blattgold und Silberornamenten aufs Papier gezaubert. In ihrem Dekor passen die beiden jedoch nicht zusammen, denn ein Schuh trägt eine Masche, der andere eine Schnalle. Der Name unter der Collage erklärt das ungleiche Paar: Sie sind Christine Jorgensen gewidmet, der ersten Person in Amerika, die eine geschlechtsangleichende Operation publikmachte.

Die Lust am Wechselspiel von männlichen und weiblichen Identitäten, an Homoerotik und Drag zieht sich als Silberfaden durch die Schau Andy Warhol exhibits a glittering alternative. Dabei nimmt das unbekannte Frühwerk des Künstlers eine zentrale Rolle ein. Warhol selbst hielt es unter Verschluss und wollte es nach seinem Durchbruch 1962 nicht mehr ausstellen.

Idol Truman Capote

Wie es dazu kam? Mit dem Kunstdiplom in der Tasche über siedelte Andrew Warhola 1949 von Pittsburgh nach New York. Seine Illustrationen kamen in der Werbebranche so gut an, dass er kommerziell Fuß fasste. Der junge Illustrator verlor jedoch nie seine künstlerischen Ambitionen aus den Augen.

Große Chancen am Kunstmarkt konnte er sich kaum ausrechnen. Schließlich war der Sohn osteuropäischer Einwanderer das Gegenteil der trinkfesten Maler-Machos à la Jackson Pollock, die in den 1950er-Jahren den Ton angaben.

Ein Idol fand Warhol im Schriftsteller Truman Capote. Der Autor lebte offen schwul, sein Debüt roman Other Voices, Other Rooms handelte von einer homosexuellen Hauptfigur. Warhol war davon so begeistert, dass er Illustrationen zu Capotes Prosa schuf und ihm seine erste New Yorker Galerienschau widmete. Eine Kritik bescheinigte den Grafiken einen "Anflug von sorgfältig gewählter Perversität".

Den Zeichenblock hatte Warhol zu jener Zeit stets bei der Hand. Mit klaren Kugelschreiberlinien hielt er gutaussehende Boys fest und wurde dafür mit dem französischen Künstler Jean Cocteau verglichen. Einen Hang zum Fetisch verraten seine vielen Fußbilder. Aber Warhol ging auch gleich in medias res, wenn er in seinen verspielten Cock Drawings Penisse von Liebhabern und Freunden in Kostümen verewigte.

Rosa Popos: Die Buchserie "In the Bottom of My Garden" von 1958 verdeutlicht Warhols Interesse an Varianten der Geschlechterperformance. Nur für Selbstvermarktungszwecke zeigte er sie einer kleinen Öffentlichkeit.
Foto: Haydar Koyupinar

Das heiße Spiel mit der Schlange

Diese Vorlieben bargen viel Risiko, denn in der repressiven McCarthy-Ära drohten Homosexuellen hohe Gefängnisstrafen. Zumindest in der Werbebranche traf der schüchterne Brillenträger auf Gleichgesinnte, etwa den Modefotografen Otto Fenn. Warhol liebte Partys, und in Fenns Studio feierten Kerle in Frauenkleidern wilde Feste. Sein Hang zur performativen Selbstinszenierung und zum Rollenspiel wurde von der Gay-Community befeuert.

In der Grafikserie Ladies’ Alphabet, einer Revue witziger Frauen typen, taucht Fenn als exaltierte Raucherin auf, die sich laut Begleittext ihren Damenbart vor Ort entfernen lässt. Als Vorlage dienten Fenns Selfies beim Crossdressing. Während seine Freunde zum Spaß Perücken aufsetzten, waren sie für den schon mit Mitte zwanzig kahl gewordenen Warhol ein ästhetisches Hilfsmittel. Später wurden die Silberhaare sein Markenzeichen.

Auf die Form des Abc griff auch die Publikation A Is an Alphabet 1953 zurück, die kurze Tiergeschichten erzählt. Warhol wollte, dass seine Zeichnungen wie gedruckt aus sehen, und entwickelte dafür die Technik der "blotted line". Bei dieser Reproduktionsmethode entsteht das Bild durch den Abklatsch einer Tuschezeichnung auf ein anderes Papier. Schemenhafte Männerfiguren scheinen an einen verstohlenen Flirt zu denken. Der Reim darunter spricht für diese Deutung, erzählt er doch vom Spiel eines Mannes mit einer Schlange, die dann von dessen Mutter verscheucht wird.

Schwules Schmusen

Wie viel Warhols Kunst seiner sexuellen Orientierung und seinem "Großwerden" in der schwulen Subkultur verdankte, würdigen Museen erst seit kurzem. Aber Warhol profitierte gewissermaßen auch von der Homophobie, denn sie inspirierte ihn zu subversiven Strategien, über Tabus zu sprechen. Dies zeigt auch die jetzige Schau mit der Auswahl seiner Underground-Filme. Kiss bietet 50 Minuten nichts als Schmusende, darunter wie selbstverständlich auch männliche Paare.

Warhol war schon bei den Reichen und Schönen gefragt, als er 1975 in seiner Serie Ladies and Gentlemen eine Reihe von Dragqueens abbildete. Dafür wurde ein Casting in einem einschlägigen Lokal veranstaltet. Warhol lichtete die afro- und lateinamerikanischen Stammgäste mit der Polaroidkamera ab.

An Dragqueens fesselte den Popartisten, dass sie für ihn Starkult verkörperten. Ein Gemälde zeigt den Transvestiten Wilhelmina Ross, verkleidet als die legendäre Tänzerin Josephine Baker. Das vielfarbige Porträt verströmt souveräne Sinnlichkeit und Kraft. Dass die Namen und Biografien der dreizehn anderen Dargestellten erst 2014 erforscht wurden, spricht für sich. (Nicole Scheyerer, 21.10.2020)