George Gershwins Klassiker "Porgy and Bess" wird im Theater an der Wien zeitgenössisch interpretiert: mit Asylwerbern.

Foto: Monika Rittershaus

Das Milieu erinnert an den Titel eines Bestsellers von Günter Wallraff: Ganz unten. Die Hauptfiguren sind eine Drogensüchtige in ihren Dreißigern und ein Bettler mit einem lahmen Bein. Die Handlung inkludiert neben einer großen Liebesgeschichte sexuelle Hörigkeit und Selbstjustiz. Gegen alle Wahrscheinlichkeit werden die zwei Verlierer ein Paar. Wie singt Rihanna so schön? "We found love in a hopeless place." Dann bringt der Bettler den Ex seiner Freundin um, die erliegt ihrer Sucht nach Kokain – und macht sich mit dem Dealer aus dem Staub.

Ohne Zweifel: George Gershwins 1935 in New York uraufgeführte Oper Porgy and Bess ist thematisch alles andere als Schnee von gestern. Im Theater an der Wien hat Matthew Wild das Stück in die Gegenwart versetzt, vom South Carolina der 1870er-Jahre "an die Peripherie einer nicht genauer bezeichneten europäischen Küstenstadt". Aus der schwarzen Bevölkerung von Charleston wurden Geflüchtete und Asylbewerber, die in und vor Containern leben, lieben, leiden, Hochprozentiges trinken und sich ab und zu umbringen.

Fade Musical-Asepsis

Die Überstellung von Gershwins Opernpersonal in eines der Problemfelder der europäischen Gegenwart erweist sich als stimmig. Schade nur, dass die kunterbunte Gesamtaufmachung der Akteure zwar stilistisch gelungen ist (Ballonseide und Sneakers, alles da), aber leider eine fade Musical-Asepsis ausstrahlt: Die Kleidung der Asylwerber ist nicht nur sauber, sondern rein und frisch gebügelt obendrein (Kostüm und Bühne: Katrin Lea Tag). Man wähnt sich auf einer der Schwesternbühnen des Hauses, im Ronacher oder im Raimundtheater. Aber Gershwins große amerikanische Oper wurde ja immer wieder als Musical bezeichnet.

Für die musikalische Umsetzung des Werks wurde im Theater an der Wien ein Mann verpflichtet, der von Porgy and Bess jede Note kennt – selbst die gekürzten. Wayne Marshall hält am Premierenabend die Zügel auf feste und zugleich freundliche Weise in der Hand. Im Orchestergraben musiziert das mit Jazzmusikern erweiterte Wiener Kammerorchester special extended auf eine direkte, robuste, geländegängige Weise: mehr mit abgebrühtem Big-Band-Pragmatismus denn mit der Inspiriertheit des Jazz.

Wonne durch Solisten

Pandemiebedingt konnten nur wenige Mitglieder des Cape Town Opera Chorus anreisen – egal, denn der Chor des Ensembles beeindruckt mit vokaler Potenz und einer Innigkeit, die das Herz rührt. Die Solisten sorgen am Premierenabend für Wonnegefühle, allen voran das Titelpaar. Jeanine De Biques fokussierter Sopran glänzt wie ein Stern und zieht eine strahlende Bahn; Eric Greenes mächtiger Bariton ist von flächigerer Verfasstheit. Aber der Mann mit der Physis eines NBA-Centers entwickelt eine prophetische Intensität: ein Jochanaan der Vorstadt.

Stimmlich trompetenhell und agil, aber darstellerisch etwas zu freundlich: Zwakele Tshabalala als Staubverkäufer Sportin’ Life; Norman Garretts Crown agiert stimmlich und darstellerisch zu harmlos. Mary Elizabeth Williams kämpft als Serena mitreißend mit der herausfordernden Partie und ihrem strapazierten Stimmmaterial; beeindruckend Ryan Speedo Greens Jake, so mächtig wie ein Baumstamm. Hochkarätig Brandie Sutton als Clara; Tichina Vaughn liegt die gemütliche Seite der Maria mehr als die kämpferische. Jubel und Musical-Optimismus zum Ende. (Stefan Ender, 16.10.2020)