Doppelfunktion für den tschechischen Premier Andrej Babiš: Er vertritt nicht nur sein Land, sondern auch die polnischen Nachbarn. Kommissionschefin Ursula von der Leyen wies ihm den Weg, ehe sie sich in Selbstisolation begab, weil es in ihrem Büro einen positiven Fall gibt.
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Im Vorfeld des EU-Gipfels, der am Donnerstagnachmittag begann, hatten mehrere Staats- und Regierungschefs darauf gedrängt, das Treffen angesichts steigender Corona-Infektionszahlen online abzuhalten. Und tatsächlich wurde der Gipfel rasch von der Pandemie überschattet und gestört. Wegen eines positiven Corona-Falls in ihrem Büro musste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Konferenz frühzeitig verlassen.

Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell muss in Quarantäne, er hätte heute, Freitag, bei der Debatte über Afrika dabei sein sollen. Die Staats- und Regierungschefs, die sich in Brüssel versammelt hatten, konnten bleiben. Bloß Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki fehlte; er hatte sich schon am Dienstag in Warschau in Quarantäne begeben und wurde von seinem tschechischen Amtskollegen Andrej Babiš vertreten.

Hotspot Brüssel

Die Nervosität, dass es im höchsten EU-Gremium zu einer Infektion und einem Cluster kommen könnte, war schon im Vorfeld groß. Aus gutem Grund. Nicht nur im Gastgeberland Belgien sind die Infektionszahlen seit Tagen regelrecht explodiert (siehe unten). Mehr als 8.000 Neuinfektionen, davon überdurchschnittlich viele in der EU-Hauptstadt, wurden verzeichnet. Auch die Zahlen von Hospitalisierungen und Covid-19-Kranken auf Intensivstationen steigen mit Zeitverzögerung stark.

Mehrere Quarantänefälle

In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron Mittwochabend nächtliche Ausgangssperren verhängt. Aber auch beim Gipfel selbst war die Eskalation direkt zu sehen. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki kam nicht und ließ sich durch den tschechischen Premier Andrej Babiš vertreten, weil er sich in Warschau in Quarantäne begeben musste. Und Sassoli gab bekannt, dass die Straßburger Parlamentssitzung nächste Woche nur virtuell stattfindet, weil Reisen sowohl in Belgien wie auch in Frankreich wegen einer "besorgniserregenden Situation" nicht zu empfehlen seien. Der Chef der größten Fraktion, der Christdemokraten (EVP), Manfred Weber, steht auch unter Quarantäne.

Weil es auch im derzeitigen EU-Vorsitzland Deutschland nach Aussage von Kanzlerin Angela Merkel da und dort bereits zu einem exponentiellen Anstieg der Infektionszahlen kommt, drängten gleich mehrere Regierungschefs darauf, die Tagesordnung umzuwerfen und gleich über die Corona-Probleme und die Notwendigkeit der Verbesserung des gemeinschaftlichen Krisenmanagements zu beraten. Merkel drängte darauf, die Anstrengungen zur Eindämmung der Corona-Krise auch auf EU-Ebene voranzutreiben. Laut Diplomaten wollte der Gipfel ihr den Auftrag geben, rasch neue Vorschläge zur besseren Abstimmung der EU-Staaten vorzulegen. Insbesondere die Reisebeschränkungen und Quarantänevorschriften werden zum ernsten Problem für Binnenmarkt und Wirtschaft.

Doch nicht der Brexit ...

EU-Ratspräsident Charles Michel wollte am ersten Tag des zweitägigen Gipfels nur über die stockenden Brexit-Verhandlungen und das Klimaprogramm reden. Die grundsätzliche Einigung auf das von der Kommission vorgeschlagene neue Ziel, den Treibhausgas-Ausstoß bereits 2030 um mindestens 55 Prozent unter den Wert des Jahres 1990 zu reduzieren, steht. Ein Beschluss samt Anpassung der Klima- und Energiepolitik soll im Dezember gefasst werden. Kanzler Sebastian Kurz drängte auf eine weitreichende Diskussion über den "ambitionierten Vorschlag": Wie der Wirtschaftsstandort Europa geschützt werden könne und die Last unter den EU-Ländern verteilt werden.

Beim ersten Hauptthema, dem Stand der Verhandlungen über ein Handelsabkommen der Union mit Großbritannien, wollen die 27 Regierungschefs mit Premier Boris Johnson weiterverhandeln. Dieser hatte damit gedroht, dass es am 15. Oktober zum Abbruch der Gespräche, nach dem Auslaufen der Übergangsfrist Ende des Jahres zu einem harten Schnitt in den Beziehungen kommen werde.

... und dennoch kein Ende

Bei einem Telefonat mit von der Leyen und Michel Mittwochabend klang das aber schon wieder anders. Johnson wolle sich nun erst einmal ansehen, was der EU-Gipfel beschließe, hieß es. Das stand bereits vor der Sitzung fest. Die Gemeinschaft räumt eine weitere Frist ein. Es wäre denkbar, einen Abschluss erst Mitte November zu machen, sodass ein geregelter Übergang ohne neue Zölle oder Mengenzugangsbeschränkungen für Waren mit Jahreswechsel automatisch einträte, sagte der für den Brexit Zuständige im Parlamentsausschuss, der Deutsche David McAllister (EVP).

Man rechnet bereits damit, dass es bei einem EU-Sondergipfel Mitte November in Berlin, der als EU-China-Gipfel angesetzt ist, zu einem Sondertreffen mit Johnson kommt. Die umstrittensten Fragen sind Fischereirechte für Franzosen in britischen Gewässern und die Fragen der Gerichtszuständigkeit bei rechtlichen Streitigkeiten. (Thomas Mayer, 15.10.2020)