Betty Andover aus "So ist die Welt geworden" ist die Heldin des Covid-19-Romans und immer wieder das Alter Ego der Schriftstellerin Marlene Streeruwitz.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Hier ein Auszug des Anfangs vom Ende: Episode 13, 29. Juni 2020.

Wien. Immer noch. "Abschied", sagte Betty laut. "Abschied. Abschied. Abschied." Sie saß auf dem Bänkchen in der Pawlatschen und schaute in die Baumwipfel hinaus. Die Linden blühten. Der Duft. Betty hatte alle Fenster zum Hof aufgerissen. Dieser Duft. Der würde ihr fehlen. Es war gegen Abend hin, und Betty war müde. Alles gemacht, fragte sie sich. Und warum fuhr sie nicht gleich? Der Küchenboden war aufgewaschen.

Es war das Bild von Joseph de Angelo gewesen. Betty hatte den Artikel im Guardian gelesen. Sie war aufgestanden. Hatte sich umgesehen. Sie hatte sich um sich gedreht. Mit ausgebreiteten Armen hatte sie eine Pirouette gemacht und hatte gleich mit dem Packen begonnen. Sie hatte alle Anrufe erledigt. Alles organisiert. Vorbereitet. In die Wege geleitet. Auf dem Bänkchen sitzend. Sie hatte den ganzen Tag nichts essen können. Wasser. Sie hatte nur Wasser getrunken und jetzt. Zum Lindenduft trank sie ein Glas Frizzante Rosé von einem Winzer am Bisamberg.

Das ist alles reine Bitternis

Bisamberg. Am Bisamberg. Da war der erste Sohn ihrer Schwiegermutter verschollen. In den letzten Kriegstagen. Der war noch einen Tag vor Kriegsende zu seiner Truppe zurückgekehrt. Der war kein Nazi gewesen. Im Gegenteil. Aber die Drohung des Erschießens. Und die Kameraden. Betty seufzte. Es wurde immer unterschätzt, was die Bindung an die Kameraden für Soldaten bedeutete. Diese Bindung. Das war deren Rettungsanker. Das war deren Erhalt ihrer Menschlichkeit.

Das war eines von den Gefühlen, mit denen Personen verführt wurden, das Leben gegen sich selbst zu richten. Wie die Liebe zu einem Mann das für Frauen gewesen war. Und dieser Sohn. Ein liebevoller Mensch. Betty hatte sein Tagebuch gelesen. Nach dem Tod der Schwiegermutter. Das war die Mutter ihres ersten Ehemanns gewesen. Bisamberg. Die alte Frau hatte noch so viele Jahre später erschreckt vor Hoffnung aufgeschaut, wenn die Türglocke geläutet worden war.

Der Leichnam dieses Sohns. Er war nie gefunden worden. War er in der Donau gelandet? Oder war er in einer Bombenexplosion zerrissen worden? In der Detonation einer Granate aufgelöst? Unter einem russischen Panzer im Schlamm begraben? Oder war er entkommen und lebte irgendwo unter neuem Namen und wollte vom alten Leben nichts wissen? Oder? War er von den Russen gefangen genommen worden, in einem Lager dort zugrunde gegangen? Oder lebte er in Russland und auf Russisch?

Betty saß da und alles Verschollene. Es drängte gegen ihren Atem an. Trank sie nun Wein aus der Asche ihres Halbschwagers? Der. Er wäre mittlerweile mehr als hundert Jahre alt. Würde nicht mehr leben. Hätte den Lebensbogen abgeschlossen. Betty trank auf ihn. Sie trank auf diese Person, die als Schatten in ihrem Leben vorkam.

Und wie viel wichtiger waren solche Schatten geworden als die Lebenden. Ihr erster Mann fiel ihr erst nach diesem verschollenen Sohn ein. Und war das nun ihre Versöhnung mit dem Leben? War das der Sohn in Versöhnung? Nein, dachte Betty. Das ist alles reine Bitternis.

Joseph de Angelo. In dem Artikel im Guardian waren alle Bezeichnungen angeführt. The Golden State Killer. The Original Night Stalker. The East Area Rapist. In den Jahren 1974 bis 1986. 14 Morde. 50 Vergewaltigungen. Das waren die Taten, die ihm hatten nachgewiesen werden können. Joseph de Angelo war Vietnam war veteran. Die Frauenmorde und Vergewaltigungen waren der Preis dieses Kriegs, den die Frauen in Kalifornien für die Politik in Washington zu bezahlen gehabt hatten.

Joseph de Angelo hatte nach seinem Kriegsdienst als police officer gearbeitet. Frau und drei Kinder. Es war die Abgleichung der DNA von damals in Open-resource-DNA-Datenbanken, die zur Entdeckung von Joseph de Angelo als Täter geführt hatte. Wie war aber seine DNA in diese Datenbanken gekommen? Und plötzlich. Es war alles anrüchig. Die Entdeckung. Es sollte keinen Prozess geben. Um Geld zu sparen, sollte der Täter sich zu seinen Taten bekennen. Als Gegenleistung sollte es keine Todesstrafe für ihn geben.

Die Welt in Virusinseln

Aber wenn man ihm doch alles nachweisen konnte, wie sollte es da kein Urteil geben? Ein Geständnis. Wenn dieser Mann alle diese Taten begangen haben sollte. War das Geständnis dann nicht der Hohn selber? War das nicht die Krönung eines Täterlebens, die eigenen Taten unwidersprochen als Sprachaufnahme in ein Gerät diktieren zu können? Niemand. Keine Person sprach die Verurteilung mehr aus. Aus Geldmangel im Justizsystem? Keine Genugtuung? Keine Antwort der Gesellschaft auf die Taten?

Antwortloser Triumph des Täters war das. Denn der. Der war nun alt. Auf den Bildern. Ein kahler Kopf. Altersfleckig. De Angelo. Der Todesengel. Es wurde ihm keine Reue abverlangt. Und er. Seine schreckliche Ernte. Gemordet in Vietnam. Gemordet in den USA. Er konnte sie einbringen. Unwidersprochen. Das Leid. Er hatte sein Leid vergesellschaftet. Verbreitet. Ausgesät.

Betty musste an all die abgeschnittenen Leben denken. Hier wie dort. Was für eine Spur in der Welt sich diese eine Person hatte nehmen können. Und niemand gerettet vor dieser Person. Im Gegenteil. Dieser Mann war ja zum Töten ermächtigt gewesen. Der hatte den Krieg nur weiterbetrieben. Zu dem Bild dieses Manns.

Betty war mit einem Mal von der ganzen Situation überfallen gewesen. In erstickender Weise war das gewesen. Die ganze Welt ein Gefängnis. Der Virus. Die Welt in Virusinseln und virusfreie Inseln aufgeteilt. Verbindungslos. Die Männer in den Regierungspalästen. Eine Bande theoretischer Mörder und Vergewaltiger. Trump. Putin. Xi. Der polnische Präsident. Der brasilianische Präsident.

Alle diese Männer, die in lockerroom talk ausgebildet worden waren. Sich ausgebildet hatten. Die wussten, wie die Formeln der Gewalt zu sprechen waren. "Grab them by the pussy." Joseph de Angelo hatte das getan, was in diesem talk so in der Luft hing. Das Vergnügen an Gewalt. Und diesen Leuten war eine nun ausgeliefert.

Marlene Streeruwitz, "So ist die Welt geworden". 19,– Euro / 208 Seiten. Bahoe Books, Wien 2020
Cover: Bahde Books

Dieser Virus. Ein anpassungsfähiger Kristall lieferte sie diesen Männern aus. Ihr Bundeskanzler. Ein schlecht ausgebildeter Kaplan aus der Monarchie. Kapläne mussten schlecht ausgebildet bleiben. Die Aristokratie hatte keine Aufsteiger auf irgendeinem Bischofssitz sehen mögen, und der Vatikan war immer der aristokratischen Meinung gewesen. Für diese immer schlecht Ausgebildeten.

Die bekamen keinen lockerroom talk. Die bekamen die Hoffnung, eines Tages. Nach einem langen Leben der Anpassung und Unterwürfigkeit diesen lockerroom talk überhaupt einmal lernen zu dürfen. An der Leichtigkeit der Macht im Zentrum teilnehmen zu dürfen. Zu dürfen.

Betty musste schlucken. Nun. Jetzt. Sie fand sich unterworfener denn je, und das machte sie krank. Konnte sie krank machen. Und weil sie die Weltsituation nicht ändern konnte. Sie änderte ihr Leben. (...) (Marlene Streeruwitz, "So ist die Welt geworden", 17.10.2020)