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Sadyr Schaparow (links) übernimmt die Macht in Kirgisistan vom zurückgetretenen Präsidenten Sooronbai Schejenbekow (rechts).

Foto: AP / Vladimir Voronin

Die Gewalt auf den Straßen von Bischkek ist beendet – vorläufig. Innerhalb von zehn Tagen ist das gesamte politische System der zentralasiatischen Gus-Republik in sich zusammengefallen. Wieder einmal. Der politische Umsturz, der durch die umstrittene Parlamentswahl Anfang Oktober ausgelöst, aber keineswegs verursacht wurde, hat nun auch Präsident Sooronbai Schejenbekow davongefegt. Der 61-Jährige ist der dritte von insgesamt fünf kirgisischen Präsidenten, der seine Macht durch eine blutige Revolution verloren hat.

Lediglich zwei Amtsinhaber – Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa (2010–2011) und der nach ihr gewählte Almasbek Atambajew (2011–2017) – konnten in der nachsowjetischen Ära ihren Posten am Ende der vorher abgesprochenen Amtszeit friedlich an ihren Nachfolger übergeben. Was Atambajew übrigens nicht vor einer anschließenden Strafverfolgung schützte.

"Vor Gott ist mein Gewissen rein"

Schejenbekow begründete seinen Rücktritt mit der Sorge um das Leben und die Gesundheit seiner Mitbürger bei einer Fortsetzung der Unruhen. Die aufkommende Kritik an seiner Führungsschwäche konterte er mit den Worten: "Vor Gott und dem Volk ist mein Gewissen rein."

Sein Nachfolger wird der 51-jährige Sadyr Schaparow. Die Prozedur seiner Bestellung wirft aber – ganz abgesehen von den für Kirgisistan fast "üblichen" revolutionären Begleiterscheinungen – rechtliche Fragen auf. So hatte Schejenbekow nach den Unruhen den Notstand ausgerufen, der bis zum 19. Oktober gilt. Das Notstandsgesetz verbietet aber "Veränderungen in der Struktur, der Funktion und den Vollmachten der staatlichen Organe", genau genommen hätte Schejenbekow laut Verfassung also bis zum 19. Oktober nicht zurücktreten dürfen.

Wahl im Hotel

Zudem ist Schaparows Legitimation fraglich: Bei der Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten stürmten seine Anhänger am 6. Oktober das Gefängnis und befreiten ihn aus seiner bis dahin bestehenden Haft. Am selben Abend noch ließ sich Schaparow im Bischkeker Hotel Dostuk zum Premierminister wählen. Normalerweise müssen für eine Regierungsbildung mindestens 61 Parlamentarier zusammenkommen und eine Mehrheitskoalition bilden. Im Dostuk waren jedoch Medienangaben zufolge nur 35 Abgeordnete. Angeblich hatten sie die Vollmacht von 26 weiteren dabei, das ist jedoch kaum nachzuprüfen.

Außerdem geht die Vollmacht des Präsidenten nach seinem Rücktritt normalerweise auf den Parlamentschef über. Das wäre in dem Fall Kanat Isajew. Doch der legte – offensichtlich ebenfalls auf massiven Druck hin – selbst sein Amt nieder, wodurch der Weg für Schaparow frei wurde.

Korrupt gegen die Korruption

Wenig Optimismus verheißt auch Schaparows Biografie. Der studierte Turnlehrer war zunächst Chef eines Landwirtschaftsbetriebs und einer kleinen Ölgesellschaft. Nach der sogenannten Tulpenrevolution machte er dann Karriere, wurde Abgeordneter der Präsidentenpartei. Später wurde der inzwischen per Zweitstudium zum Juristen aufgestiegene Schaparow Leiter der Kommission für Korruptionsverhinderung unter Präsident Kurmanbek Bakijew, der in seiner Amtszeit selbst zum Inbegriff für Korruption in Kirgisistan wurde.

Während der ethnischen Unruhen 2010 soll Schaparow kirgisische Nationalisten unterstützt haben. Seine jetzige Popularität verdankte er schließlich seinem Kampf für die Verstaatlichung der Goldmine Kumtor, die mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Kirgisistan erzeugt, aber seit den 90er-Jahren von einem kanadischen Unternehmen erschlossen wird.

Vom Geiselnehmer zum Staatschef

Der Konflikt wurde von der Regierung bewusst gefördert, um Druck auf die Kanadier auszuüben und bessere Bedingungen auszuhandeln. Er geriet aber außer Kontrolle, als die Demonstranten den Gouverneur der Region als Geisel nahmen. Schaparow wurde der Organisation der Geiselnahme angeklagt und nach seiner Rückkehr aus Zypern zu elfeinhalb Jahren Haft verurteilt.

Der Machtwechsel in Bischkek dürfte daher einer Umverteilung der Ressourcen dienen. Der russische Politologe Arkadi Dubnow wirft Schaparow gar vor, als Marionette des organisierten Verbrechens zu agieren. Die russische Regierung hat ihre Finanzhilfen für das bettelarme Land vorläufig eingestellt, bis eine neue legitime Regierung an der Macht ist. Die Parlamentswahl soll nach Angaben der Wahlkommission am 20. Dezember, die vorgezogene Präsidentschaftswahl am 17. Jänner stattfinden. (André Ballin aus Moskau, 16.10.2020)