Schrecken des Eises und der historischen Finsternis: Sophy Roberts unterwegs in den Weiten Sibiriens.

Foto: Michael Turek

Vor fünf Jahren hörte die britische Reisejournalistin Sophy Roberts in einer Jurte in der mongolischen Steppe dem Klavierkonzert einer jungen Frau zu. Die Hingabe, mit der Odgerel Sampilnorow, Tochter einer Familie mit schamanischen Wurzeln, Bach und andere Komponisten spielte, beeindruckte sie und einen gemeinsamen Freund, einen deutschen Filmproduzenten, so, dass sie beschlossen, ein besseres Klavier für die Frau zu finden. Roberts meinte es ernst. Sie machte sich auf eine jahrelange Suche – in Sibirien.

Das Ergebnis ist ein faszinierendes Buch, Sibiriens vergessene Klaviere, die Chronologie einer "eigensüchtigen Verrücktheit", wie sie es nennt, und ein gut informierter Blick auf eine riesige, den meisten Menschen völlig unbekannte Region und ihre oft grausame Geschichte.

Ruinierte Musikkultur

Dabei ist – vielleicht die erste Überraschung in diesem an Volten und Entdeckungen reichen Buch – die Verknüpfung von Pianos und Sibirien nicht willkürlich, im Gegenteil. Die russischen Aristokraten und Großbürger liebten Klaviere als Status- und Kultursymbole, sie vergötterten Franz Liszt, der die "Pianomanie" erst so richtig anfachte.

Und mit den ins unwirtliche Land jenseits des Urals gesandten oder verbannten Gouverneuren, Revolutionären, Intellektuellen und Strafgefangenen gelangten immer mehr Instrumente deutscher, englischer, auch russischer Provenienz in den Osten.

Wie es ihnen dort erging, wie sie gepflegt und geschätzt, aber auch vernachlässigt und zerstört wurden, je nach den reformerischen oder revolutionären Wellen, die über das Land zogen, bis zuletzt der von Jelzin losgetretene Kasinokapitalismus die Musikkultur ruinierte: Vieles konnte Sophy Roberts anhand der Bruchstücke (im Wortsinn) beziehungsweise der Pianos rekonstruieren, die sie noch finden konnte.

Monatelange Reise

Manchmal halfen Seriennummern, die auf den Hersteller verwiesen: Bechstein, 1874 an "Nikolai R." in Moskau verkauft – ob das der berühmte Rubinstein war? Immer auf der Suche nach einem besonderen Instrument für Odgerel ging Roberts auf mehrere monatelange Reisen, die sie vom Ural bis in den Nordosten fast bis nach Alaska führten.

Zu den schönsten Passagen des spannend geschriebenen und von Brigitte Hilzensauer ebenso gut übersetzten Buches zählen ihre Begegnungen mit Menschen, denen die aus feuchten Kellern oder verstaubten "Häusern der Kultur" geretteten Klaviere alles bedeuteten.

Durch sie erfuhr sie von der Liebe zur Musik wie zum Land. Für die erblindete Pianistin Nina Alexandrowna war Sibirien kein Herz der Finsternis, "es war die Appassionata – eine Erfahrung von solcher Intensität, dass sie sich tief in ihre herrliche russische Seele gegraben hatte".

Manche Erkundigungen führten Roberts in Sackgassen, etwa die Hoffnung, den von der Zarenfamilie nach Tobolsk und Ekaterinburg mitgenommenen Flügel zu finden. Oder ihr Besuch beim Volk der Nenzen am Polarkreis. Hier erfuhr sie zwar, wie Musik helfen konnte, "die extreme Monotonie an einem leeren Ort zu ertragen".

Doch das einzige Klavier, das sie sah, war so verstimmt, dass ihre Besitzer nicht mehr darauf spielen wollten. Stattdessen erzählten sie der Journalistin von dem Vorhaben Stalins aus den späten Vierzigerjahren, eine Eisenbahnlinie von hier tausende Kilometer quer durch die Arktis zu bauen. Es war eines seiner berüchtigten Projekte, die nie zu einem Ende kamen, aber tausende Zwangsarbeiter das Leben kosteten.

Roberts war mit der Einsicht konfrontiert, "dass, auch wenn mein Wunsch noch so stark war, meine Klaviersuche möge alles hervorheben, was an Sibirien großartig war, doch vieles von dem, wonach ich suchte, mit einer erschreckenden Vergangenheit verbunden war".

Was bleibt

Sophy Roberts, "Sibiriens vergessene Klaviere". Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. 26,80 Euro / 398 S. Zsolnay, Wien 2020

Ein Umweg brachte sie in die Stadt Harbin, heute in China, im zaristischen Russland und bis in die 1930er-Jahre ein kosmopolitischer Ausnahmeort der Freizügigkeit, vibrierend – wie Roberts aus Quellen zitiert – vor Cabarets und Jazz und Klavieren. Sie fand allerdings keines. Die Roten Garden hatten sie zu Kleinholz gemacht.

Das Buch mit seinen zahlreichen historischen und aktuellen Fotos und den Landkarten, welche die vielen Ziele der Autorin zeigen, ist sorgfältig gestaltet, mindestens so sehr wie das englische Original.

In dessen Titel sind übrigens die Klaviere "lost", also verloren. Da trifft "vergessen" den Inhalt eigentlich besser. Denn wie sich im Lauf der Lektüre herausstellt, ist nicht alles verloren. Zum Beispiel nicht das Grotrian-Steinweg-Pianino aus den 1930er-Jahren, mit dem Roberts eine letzte, schöne Pointe setzt.

So viel sei verraten: Wenn nichts dazwischenkommt, auch keine neue Covid-Welle, kann man Odgerel Sampilnorow im kommenden Sommer im mongolischen Ochron-Tal spielen hören. (Michael Freund, ALBUM, 17.10.2020)