Bov Bjerg, "Serpentinen". 22,70 Euro / 272 Seiten. Claassen-Verlag, München 2020

Cover: claassen

Fast könnte man vom Eribon-Genre sprechen: Romane von Männern, in denen sich Männer, oft mit soziologischem Besteck, mit ihrer Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen, ihrem (Bildungs-)Aufstieg, ihren Familien, vor allem mit ihren Vätern auseinandersetzen.

Natürlich gibt es ähnliche Literatur auch von Frauen, etwa von Annie Ernaux – dann aber mit etwas anderem Fokus. Eribons Rückkehr nach Reims war der Anfang, in Frankreich folgte prominent vor allem Édouard Louis mit Wer hat meinen Vater umgebracht.

In Deutschland erschienen heuer im Claassen-Verlag zwei Bücher, die sich, einmal explizit, im anderen Fall ein wenig verrätselt, auf diese Romane beziehen: Christian Barons zum Bestseller avanciertes Ein Mann seiner Klasse und Bov Bjergs Serpentinen, das heuer für den Deutschen Buchpreis nominiert war.

Worum geht es? Das ist die Frage, die "der Junge", der siebenjährige Sohn des Ich-Erzählers, seinem Vater immer wieder stellt. Worum geht es also? Der Ich-Erzähler fährt mit seinem Sohn zurück in seine Heimat, in die Schwäbische Alb.

Ich war noch am Leben

Es ist kein Kurzurlaub, es ist eine Aufarbeitungsreise. Der Mann entstammt einer Selbstmörderfamilie: Der Urgroßvater hat sich ertränkt, der Großvater erschossen, der Vater erhängt. "Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere. Ich war noch am Leben."

Der Mann entstammt einer Familie, die man im kühlen Akademikersprech als bildungsfern und einkommensschwach bezeichnen würde: Die Mutter, nach dem Krieg aus Böhmen nach Baden-Württemberg geflüchtet, arbeitete als Stubenmädchen, Putzfrau, Näherin, Verkäuferin.

Der Vater war Stuckateur. Er soff, prügelte die Familie. Bis er sich erhängte. Der Erzähler ist Sohn eines glühenden Nationalsozialisten: "Er schimpfte nicht auf Ausländer. Er war lediglich der Ansicht, dass Deutschland die Welt beherrschen solle, dass Hitler ein großer Mann gewesen und dass es richtig gewesen sei, möglichst viele Juden umzubringen."

Geschichte einer Depression

Längst lebt der Mann in Berlin, ist Professor für Soziologie, verheiratet mit einer promovierten Juristin. Er hat nun selbst eine Putzfrau, Oksana, und bevor sie kommt, muss der Junge sein Zimmer aufräumen. Nur seine Herkunft sitzt dem Mann weiter im Genick.

Er trinkt. Er ist depressiv. Er denkt über Selbstmord nach und darüber, seinen Sohn zu töten. Um ihm all das zu "ersparen". "Der Schwarze Gott war allmächtig. Er diktierte, ich schrieb. Er befahl, ich folgte." Er sucht einen Ausweg auf dieser Reise, eine Befreiung. Die Frage ist, ob er sie überhaupt finden kann.

Wann ist zu viel kaputtgegangen, um es noch richten zu können? Bjerg erzählt die Geschichte einer Depression, eines Traumas. Er erzählt auch die Geschichte eines Landes, in dem ein Haufen zerstörter Seelen herumläuft, kaputtgemacht von Kriegen, schwarzer Pädagogik, "deutscher" Erziehung.

Legenden, Lügen, Theorie

Und er erzählt nicht zuletzt von der Schwierigkeit, seelischem Leid mit akademischer Theorie beizukommen: "Ich misstraute der Soziologie. Ich misstraute dieser Larmoyanz. Das Individuelle wurde typisiert, wurde zurechtgebogen, bis es ins Klischee passte und ins Ressentiment und in die stimmige, ad hoc einleuchtende Geschichte. Legenden, Lügen, Bla, Theorie." Und weiter: "Es war falsch, meine kranke Wahrnehmung mit einer statistisch belegbaren, größeren Ungerechtigkeit zu erklären. Die Fremdheit kam aus meinem eigenen Leben, aus meinem eigenen Scheitern."

Es ist viel, was Bjerg in diesem Roman zusammenbringt, man könnte meinen: zu viel. Was diesen Roman aber so stark macht, ist seine sprachliche Meisterschaft, seine enorme gedankliche und gestalterische Souveränität. Es ist kaum ein Wort zu viel, kein Ton falsch in diesem Buch. Ohne Zweifel eines der herausragendsten Bücher des Jahres. (Andrea Heinz, 17.10.2020)