Elmiger: Den Deutschen Buchpreis erhielt Anne Weber, für den Schweizer hat sie beste Chancen.

Foto: Peter-Andreas Hasspiepen

Dass dieses Buch anders ist als die meisten anderen, verrät schon sein Aussehen: Die hellorange Farbe auf dem Cover mit dem grellrosa, ja was ist das? Ein Fleck? Ein Punkt? Ein Loch? Längs und weiß geschrieben: "Dorothee Elmiger Aus der Zuckerfabrik". Und weiter nichts.

Nicht "Roman", nicht "Erzählungen", aber darüber klärt uns die Schweizer Autorin, Jahrgang 1985, in ihrem neuen Buch irgendwann auf, in einer Szene, in der auch ihr Lektor Martin vorkommt, der gern "Roman" auf dem Cover hätte stehen haben wollen: "In einem kleinen weißen Auto fahren wir durch München. Ich sage, es handle sich um einen Bericht über eine Recherche, weshalb ‚Recherchebericht‘ mir ungleich passender erscheine."

Auf Elmigers Fragmente, eine Art Stream of Consciousness, auf diese poetischen Assoziationsketten, zusammengetragen aus Recherchen, Lektüren, Filmen, Träumen, Journaleinträgen und Dialogen (mit sich selbst), muss, nein will man sich einlassen. Denn es geht um nichts Geringeres als Liebe, Verlangen und Hunger, um Kapitalismus, Kolonialismus und Sexismus.

Denn der Stoff ihrer Recherche ist Zucker, mit dem sie sehr raffiniert Fäden in alle möglichen Richtungen spinnt, nur keinerlei klassischen Plot. Sie schafft vielmehr mystische und sehr persönliche Verbindungen, etwa zwischen der Geschichte der Sklaverei und der Geschichte des ersten Schweizer Lottokönigs Werner Bruni.

Als Dorothee Elmiger eine Doku über den Arbeiter sieht, der Millionär wird und bald alles wieder verspielt, beginnt die Arbeit an diesem außergewöhnlichen Projekt, "noch bevor sie wusste, was sich da herausfinden will", sagt sie selbst in einem Interview.

Hochpoetisch und hochpolitisch

Seine Geschichte und sein Fall sind das Herzstück von Elmigers Welt- und Lesereise, die uns wie den Lottokönig Bruni bis nach Haiti führt, aber auch in die Kindheit der Mystikerin Teresa von Ávila oder in das Montauk des bereits 1991 verstorbenen Schweizer Schriftstellers Max Frisch, dessen Roman Elmiger man könnte sagen um-, aber vielleicht auch nur weiterschreibt, indem sie einfach "er" und "sie" in den Sätzen von Max Frisch vertauscht. Das liest sich dann so: "Sie sieht ihn mit Wohlgefallen, wenn er speist." (S. 105)

Hochpoetisch und hochpolitisch ist die Arbeit der jungen Schweizer Autorin. Diese Zuschreibung gilt bereits für die ersten beiden Werke Elmigers: Mit Einladung an die Waghalsigen (2010) wurde sie bereits als 25-Jährige zum Bachmann-Wettlesen nach Klagenfurt eingeladen und hat dort den Kelag-Preis gewonnen. Und auch für Schlafgänger (2015) wurde sie vielfach ausgezeichnet.

Apropos Preise: Vielleicht ist die Tatsache, dass Elmiger mit ihren zwei, jetzt drei Büchern ungleich mehr Preise gewonnen hat (Rauriser Literaturpreis, Hermann-Hesse-Förderpreis, Schweizer Literaturpreis, Erich-Fried-Preis, Conrad-Ferdinand-Meyer Preis), auch ein Hinweis darauf, wie konzentriert sich Elmigers Schaffen um wichtige politische Themen wie eben Rassismus und Sexismus dreht. Auch aktuell weist Elmigers Homepage mit fettem Hashtag #EvakuiertJetzt stärker auf eine Moria-Demo als auf ihre nächsten Lesungen hin.

Unorthodox und mutig

"- Ist aber die Behauptung falsch, dass du einfach nicht imstande bist, das zu tun, was man gemeinhin unter ‚Erzählen‘ versteht?

- Nein, das ist richtig.

- Was hindert dich daran?

- Na ja, es ist doch ganz einfach so, dass immer alles Mögliche geschieht, während ich da an meinem Schreibtisch sitze ...", dialogisiert die Erzählerin.

Es ist ein manchmal ereignisloses, aber niemals absichtsloses Erzählen, mit dem die Schweizer Autorin in Aus der Zuckerfabrik hier die Elemente ihres Recherchematerials zueinander in Beziehung bringt. So schreibt ein an Kunst partizipierender, Welt wahrnehmender, lesender Mensch.

Davon zeugen auch die Fußnoten und Quellen am Ende des Textes. Es braucht Mut, mit einem so unorthodoxen Erzählformat aus dem System des Literaturbetriebs auszubrechen. Ein Mut, der bereits belohnt wurde: mit sämtlichen Buchpreis-Nominierungen. (Mia Eidlhuber, 17.10.2020)