Lernen von der Piste? Was in Ischgl nicht funktioniert hat, könnte trotzdem ein Appell zur Neuentdeckung des winterlichen Freiraums sein.
Foto: Lois Hechenblaikner

Grölendes Singen und Saufen, man riecht den Jägermeister, der mit Bier, Schweiß und teuersten Champagner-Jahrgängen vermischt die Ischgler Après-Ski-Hütte in ein strapazierendes Aerosolgewitter hüllt, förmlich aus dem Foto aufsteigen. 26 Jahre lang hat Lois Hechenblaikner das Postwedel-Treiben im Skigebiet Ischgl festgehalten und damit den visuellen Beweis zum lokalen Tourismus-Slogan geliefert: "Relax. If you can ..." Im Juni, wenige Monate nach dem Tiroler Wintergate in 1400 Meter Seehöhe, erschien im Steidl-Verlag sein schockierendes Fotobuch Ischgl.

"Das alpine Geschäftsmodell des Après-Ski ist ein schlitzohrig diabolisches, denn es baut darauf auf, dass jemand nicht mehr ganz bei sich ist, sondern ganz außer sich, um in diesem Zustand die Tourismusmaschine am Laufen zu halten", sagt der Tiroler Fotograf, der selbst im Gastgewerbe aufgewachsen ist. "Man darf aber auch den Gast nicht aus der Verantwortung entlassen. Er ist ein Komplize, den man ins Kitzloch oder in die Schatzi Bar nicht erst mit einer Peitsche eintreiben muss."

Nun ist die Großstadt mitnichten eine Piste. Dennoch darf man sich davon inspirieren lassen, dass der Homo sapiens offensichtlich kein Problem damit hat, sich der sozialen Interaktion in winterlicher Frische hinzugeben. Die Verlängerung der Schanigartensaison ist ein guter erster Schritt, um den uns bevorstehenden Corona-Winter gesundheitlich und volkswirtschaftlich möglichst unbeschadet zu überstehen. Fragt sich nur: Was tun, wenn die erste Schnee flocke fällt?

Appell and die Stadtplanungspolitik

Dass wir, wenn die urbane und gesellschaftliche Kultur nur entsprechend gepflegt wird, kein Problem damit haben, bei winterlichen Minustemperaturen auszuharren, beweist ein Blick in traditionell kalte Gefilde: In Berlin, Oslo, Stockholm, Edinburgh und Tromsø sind Gastgärten seit Jahren schon ganzjährig in Betrieb. In Warschau, Moskau und St. Petersburg gibt es selbst bei minus 30 Grad Flohmärkte, auf denen man vereiste Würstel und eingeschneite Transistorradios kaufen kann. Und in Detroit hat sich nach dem Zusammenfall der Automobilindustrie und der städtischen Verkehrsinfrastruktur eine neue urbane Fahrradkultur entwickelt, die sogar den eisigen Winden des Lake Erie trotzt.

Ja eh, trotz Klimakrise und immer milder werdender Winter ist’s auch in Wien bisweilen etwas ungemütlich an der frischen Luft. Und ja eh, Heizschwammerln sind böse, böse, böse. Aber vielleicht kann man im Krisenjahr 2020, in dem CO2- und Stickstoffdioxid-Emissionen deutlich geringer ausfallen als sonst, ja ausnahmsweise einmal die Stadtluft mitheizen und uns auf diese Weise dazu anspornen, Menschengruppen in Innenräumen zu meiden. Und Woll- und Polyesterdecken austeilen. Ganz viele Decken.

Appell an die Stadtplanungspolitik: In Zukunft in Masterplänen und Fachkonzepten nicht nur auf sommerliche Faktoren wie Urban Heat Islands, Frischluftschneisen, Coole Straßen, Verschattungskonzepte und plätschernde Brunnen setzen, sondern auch die Eiszapfenzeit mitdenken! (Wojciech Czaja, 18.10.2020)

Das Unangenehme zuerst: Weihnachtsmärkte sind das Letzte. Sie blockieren wochenlang Gassen und Plätze mit Bretterbarrikaden und mit Menschen, die von einem Bein aufs andere treten und Tassen mit klebrig-süßen Heißgetränken umklammern wie kleine Kinder, die nach Hause wollen. Weihnachtsmärkte sind eine Fehlentwicklung. Kühle Getränke in warmen Räumen sind heißen Getränken bei eisigen Temperaturen immer vorzuziehen.

Einerseits. Andererseits heißt das nicht, dass sich die Stadtbevölkerung im Winter komplett nach innen verziehen sollte. Erst recht nicht in diesem kommenden, mit Bangen und Sorge erwarteten Winter. Wenn im Innenraum Infektionsgefahr und Vereinsamung drohen, muss der Außenraum einen Ausgleich schaffen, und das nicht nur zu Konsumzwecken. Die Verlängerung der Schanigartensaison ist eine gute Sache, denn sie besetzt den Straßenraum auf Dauer und macht ihn zum Möglichkeitsraum. Bedauerlich allerdings, dass die Wiener Grätzeloasen, also Schanigärten ohne gastronomischen Bezahlzwang, nicht in die Wintersaison verlängert wurden. Hier hätte sich die Gelegenheit für Experimente geboten. Straße und Platz im Winter sollten mehr anbieten können als Schnitzel unterm Heizpilz.

Der Winter als Experiment

Warum nicht von anderen Städten lernen, die den öffentlichen Raum winterfest gemacht haben? Das kanadische Edmonton (Durchschnittstemperatur im Jänner: stramme 10,4 Grad unter null) fragte sich vor zehn Jahren: Warum immer übers kalte Wetter sudern? Warum nicht stolz sein auf Schnee, Eis und Wind? Anstatt sich in beheizte Shoppingmalls zurückzuziehen, wurde eine Winter City Strategy aufgestellt und seitdem draußen das Beste aus der Saison gemacht. Eislaufen, Schlittenfahren, Festivals, auch Modetipps für den Unter-null-Dresscode liefert die Stadtverwaltung. Sogar das Radfahren im Winter wird gefördert. Nicht nur in Kanada: Rotterdam richtete 2015 Schlechtwetterampeln für Radfahrer ein, die bei Regen schneller grün werden.

Skandinavische Städte machen das Draußen winterfest: Kopenhagen verlängert unter dem Marketing-Label CopenHot mit Outdoor-Badewannen die Freizeitsaison, in Helsinki sind die öffentlichen Saunas ganz ohne Wellness-Sprech schon immer rund ums Jahr in Betrieb, und das Meer gibt es fürs Winterschwimmen gratis da zu. "Die Temperatur ist egal, wenn die Sonne scheint und der Wind zahm ist, gilt das in nordischen Ländern als schöner Tag," schrieb der dänische Stadtplaner Jan Gehl.

Was die nordischen Breitengrade können, sollte auch im wintermilden Wien kein Problem sein. Warum nicht aus der Not eine Chance machen, aus dem Winter ein Experiment, aus dem Stadtraum ein Ideenlabor? Wer weiß, vielleicht haben wir im März Lösungen, die mehr bieten als Party und Punschkonsum und auf Distanz zum grölenden Ischglismus gehen? Zwischen den Heizpilzen ist noch viel Platz für ein stilles Winter Wonderland in kühler Frischluft. Denn die Weihnachtsmärkte allein werden uns nicht trösten. (Maik Novotny, 18.10.2020)